A. Grundbegriffe der Rechtsanwendung
In diesem Abschnitt geht es um die Frage, wie man das Recht – insbesondere das Gesetz – auf einen einzelnen Fall anwendet.
Bevor wir dieses Problem aus praktischer Sicht betrachten, machen wir uns zunächst mit einigen Grundbegriffen vertraut.
Am Ende dieses Kapitels wissen Sie,
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was Juristen unter einem Fall verstehen,
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welche Rolle die Logik bei der Fallbearbeitung spielt,
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warum Begriffe, Systeme und Definitionen für die Rechtswissenschaft so wichtig sind
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und wie Definitionen gebildet werden.
Darüber hinaus lernen Sie das Gesetz zum ersten Mal näher kennen:
Sie erhalten einen kurzen Einblick in die Art und Struktur von Rechtsnormen.
Der anspruchsvollste Teil beschäftigt sich mit dem sogenannten Justizsyllogismus – dem Schluss von der Norm auf den Einzelfall.
Abschließend befassen wir uns mit der juristischen Arbeitsweise und einigen rechtsmethodischen Grundfragen, wie sie in der Rechtsphilosophie diskutiert werden.
Die folgenden Seiten enthalten überwiegend theoretische Grundlagen. Es werden noch keine Fälle gelöst, sondern das Werkzeug vorgestellt, mit dem Sie künftig Fälle bearbeiten können.
Leser mit Vorkenntnissen werden manches wiedererkennen; andere werden sich zunächst fragen, warum gerade diese Informationen wichtig sind. Der Sinn erschließt sich, sobald Sie erste praktische Erfahrung mit der Rechtsanwendung gesammelt haben.
Vielleicht denken Sie: Ich möchte gleich loslegen – die Theorie kann warten.
Kein Problem: Beginnen Sie in diesem Fall mit dem Abschnitt „Gutachtenstil“ und lesen Sie das Kapitel „Grundbegriffe“ später nach. Lesen sollten Sie es dennoch, denn Sie wollen ja nicht nur Fälle lösen, sondern auch verstehen, was Sie tun, wenn Sie Fälle lösen – und die Fachbegriffe kennen, um sich mit anderen darüber austauschen zu können.
I. Der Fall
1. Abgrenzung
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht beschäftigen sich Juristen mit interpersonalen Konflikten.
Die Hauptbeteiligten sind die sogenannten Konfliktparteien – natürliche Personen, Gruppen, Organisationen oder Staaten.
Konflikte lassen sich nach Art und Ursache in verschiedene Kategorien einteilen, etwa in Verteilungs-, Ziel-, Macht-, Wert- oder Beziehungskonflikte.
a) Kleiner Einblick in die Konfliktlehre
Zur Lösung von Konflikten wird umfassend geforscht.
Die Konfliktforschung bietet mit ihren empirischen Analysen zahlreiche Entscheidungs- und Handlungshilfen für rational handelnde Konfliktparteien.
Wer etwa wissen möchte, ob sich eine weitere Zusammenarbeit – also Verhandlungen oder Entgegenkommen – lohnt, oder ob man besser rechtliche Mittel einsetzen sollte, findet in der Konfliktforschung hilfreiche Orientierung.
Die Forschung zeigt, dass bei der Alternative Kooperation oder Druckausübung die Kooperation meist zu besseren Ergebnissen führt – sie ermöglicht eine win-win-Lösung, von der beide Seiten profitieren.
Das kann etwa bei einer fairen Trennungsvereinbarung oder einer Erbauseinandersetzung der Fall sein.
Allerdings zahlt sich Zusammenarbeit meist nur für denjenigen aus, der etwas in der Hand hat.
Sonst endet der Konflikt häufig mit einem einseitigen Nachgeben („lose“ ↔ andere Partei: „win“).
Setzt ein Konfliktpartner dagegen auf Machtausübung statt Kooperation, kann er zwar kurzfristig gewinnen („win ↔ lose“), verliert aber die Chance auf eine gute zukünftige Beziehung.
Das schadet nicht, wenn der Konflikt nur einmalig ist (z. B. ein kleiner Verkehrsunfall), kann aber nachteilig sein, wenn zwischen den Parteien eine familiäre, wirtschaftliche oder politische Verbindung besteht.
Soll ich in Konflikten kooperieren?
Juristen werden im Laufe ihrer Praxis zwangsläufig zu Konfliktexperten.
Das Recht selbst – genauer gesagt: seine Begrifflichkeit – stellt jedoch nicht den Konflikt, sondern den Fall in den Mittelpunkt.
Der Jurist nimmt die streitige Welt in Gestalt von Fällen wahr, die – wenn sie vor Gericht landen – zu Rechtsstreitigkeiten oder kurz Rechtssachen werden.
Merke:
Juristen sehen einen Konflikt als „Fall“.
Kommt der Fall vor Gericht, wird er zum Rechtsstreit.
b) Der Rechtsfall – Begriff und Bedeutung
Was aber ist ein Fall?
Merke:
Juristen verstehen unter einem Fall
eine Streitigkeit
zwischen mindestens zwei Parteien,
die nur durch eine rechtliche Entscheidung gelöst werden kann.
Ein Rechtsfall lässt also nur eine Art der Lösung zu – eine rechtliche.
Diese muss der Jurist finden.
Denn Juristen, insbesondere Richter, stehen unter Entscheidungszwang und dürfen sich nicht auf ein „unentschieden“ zurückziehen.
Bleibt der tatsächliche Hergang offen (non liquet), entscheiden die Beweislastregeln.
2. Fall und Falllösung
Die Rechtslehre betrachtet den Fall als etwas Konkretes, also faktisch („so war es“ oder „so ist es“ = das Sein),
während das Recht etwas Abstraktes und Normatives ist („so soll es sein“ = das Sollen).
Wird der Fall dem Recht zugeordnet, wendet man das Recht an.
Beispiel:
Recht: Der Entleiher ist verpflichtet, die geliehene Sache nach Ablauf der vereinbarten Zeit zurückzugeben (§ 604 Abs. 1 BGB).
Fall: E hat sich Cs Cabrio für ein Wochenende geliehen, möchte es aber wegen des guten Wetters länger behalten.
Rechtsanwendung: E ist verpflichtet, C das Cabrio zurückzugeben.
C hat gegen E einen Rückgabeanspruch.
Der Vorgang der Rechtsanwendung wird als Subsumtion bezeichnet – die Unterordnung des Falls unter das Recht.
Der Begriff wird unterschiedlich verstanden; hier verwenden wir ihn zunächst in einem weiten Sinn, später auf der Arbeitsebene in einem engeren.
Die Fälle, die Sie im Studium lösen, sind keine echten Rechtsstreitigkeiten, sondern konstruierte, rechtshaltige Probleme, die echten Fällen nachempfunden sind.
Diese Aufgaben werden in Form eines Sachverhalts gestellt.
Der Sachverhalt beschreibt das rechtserhebliche Geschehen, also Daten, Fakten, Abläufe und Verhältnisse, die die Streitigkeit bestimmen.
Ihre Aufgabe ist es, den Sachverhalt rechtlich zu bewerten.
Die Lösung verfassen Sie im Gutachtenstil.
Wer eine gute Note anstrebt, sollte den Lösungsweg so weit wie möglich an der Lösungsskizze orientieren.
Diese wird vom Aufgabensteller erstellt und den Korrektoren als Maßstab gegeben.
Daher gilt: Wenn jemand sagt, „Schreiben Sie, was Sie wollen, solange Sie es gut begründen“, nehmen Sie das bitte nicht wörtlich.
Natürlich dürfen Sie schreiben, was Sie wollen – aber der Korrektor wird sich meist an die Musterlösung halten und weniger auf individuelle Wege eingehen.
Das Lösen von Rechtsfällen ist eine der zentralen Prüfungsleistungen im Jurastudium und wird regelmäßig in Klausuren abgeprüft.
Deshalb behandeln wir die Gutachtentechnik gemeinsam mit einer Einführung in die Klausurtechnik.
II. Rechtsanwendung
Die Zuordnung von Fall und Recht ist alles andere als einfach.
Wenn Rechtsanwendung simpel wäre, bräuchten Juristinnen und Juristen weder ein intensives Studium noch lange Praxisphasen.
Wie also funktioniert Rechtsanwendung?
Nach klassischer Vorstellung geschieht sie nach einer bestimmten Methode.
Über diese Methode wird seit über zweihundert Jahren nachgedacht – manche sehen darin keine Methode im engeren Sinn, sondern eher eine Kunst oder Klugheit, daher Begriffe wie Rechtskunst oder Jurisprudenz (Rechtsklugheit).
Der Einfachheit halber bleiben wir beim Begriff Methode.
1. Logisch-systematische Voraussetzungen
Rechtsanwendung ist mehr als ein Gedanke – sie ist Handeln: eingebunden in Institutionen, getragen von Einstellungen und geprägt durch Ausbildung und Praxis.
Richterinnen, Anwälte und Juristinnen nehmen an Meinungsprozessen teil und bewirken etwas, wenn sie Recht anwenden.
Trotz dieser Praxisnähe liegt juristischem Handeln ein charakteristisches Denken zugrunde, das sich theoretisch beschreiben lässt.
Viele Aspekte lassen sich mit Hilfe der Logik verstehen.
Ein Teil der Literatur meint daher, die Methode der Rechtsanwendung sei selbst logisch.
Dem wird hier nicht gefolgt – die Logik ist nicht die Methode selbst, spielt aber eine zentrale Rolle.
a) Der Syllogismus
Nach klassischer Vorstellung lösen Juristen ihre Fälle mit Hilfe eines logischen Schlusses – des Syllogismus.
Er bildet ein wichtiges Denkmuster innerhalb der Rechtslehre.
Ein Syllogismus besteht aus drei Begriffen:
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Oberbegriff (P)
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Mittelbegriff (M)
-
Unterbegriff (S)
Der Mittelbegriff vermittelt zwischen Subjekt (S) und Prädikat (P).
Schema des Syllogismus (Modus Barbara):
Obersatz: Alle Verträge (M) sind Rechtsgeschäfte (P).
Untersatz: Alle Kaufverträge (S) sind Verträge (M).
Schlusssatz: Also sind alle Kaufverträge (S) Rechtsgeschäfte (P).
Das syllogistische Schließen kennt bejahende und verneinende Urteile – entweder allgemein („alle“) oder partikulär („einige“).
Im Modus Barbara werden drei allgemeine Begriffe bejahend verknüpft.
Im Modus Ferio dagegen kombiniert man Allgemeinbegriffe und partikuläre Begriffe mit positiven und negativen Aussagen:
Beispiel (Modus Ferio):
Kein nichtiger Verwaltungsakt (VA) ist wirksam.
Einige VA, die an einem besonders schwerwiegenden Fehler leiden, sind nichtig.
Einige VA, die an einem besonders schwerwiegenden Fehler leiden, sind nicht wirksam.
b) Enthymeme – oder: Wir reden in Lückentexten
Solche vollständigen Schlüsse klingen logisch, aber auch etwas hölzern.
Im Alltag denken und sprechen wir kürzer.
Wir verkürzen logische Schlüsse, überspringen einzelne Glieder oder setzen sie als selbstverständlich voraus.
Beispiel:
Bei der vorliegenden Vereinbarung, einem Kaufvertrag, handelt es sich um ein Rechtsgeschäft.
Unausgesprochen steht dahinter der vollständige Schluss („Alle Verträge sind Rechtsgeschäfte“ usw., siehe oben).
Weiteres Beispiel:
„Fraglich ist, ob V und K einen Kaufvertrag gem. § 433 BGB geschlossen haben.
V hat gegenüber K ein Angebot erklärt, das K angenommen hat.
Damit ist zwischen V und K ein Vertrag gem. § 433 BGB zustande gekommen.“
Im Text fehlen einzelne Glieder der Begründungskette.
Ein erfahrener Leser ergänzt sie automatisch – vergleichbar einem Syllogismus:
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Obersatz (unausgesprochen): Kaufverträge kommen durch Angebot und Annahme zustande.
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Untersatz: In diesem Fall liegt Angebot durch V und Annahme durch K vor.
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Schlusssatz: Also ist hier ein Vertrag zustande gekommen.
Fehlende Teile solcher Schlussketten nennt man Enthymeme.
Kennzeichen eines Enthymems:
-
Fragmentarisch:
Es ist nur ein Teil eines vollständigen Schlusses ausgesprochen.
Selbstverständliches wird weggelassen – Enthymeme sind daher kurz, aber für Außenstehende oft unverständlich.
Der Eindruck eines zwingenden Schlusses bleibt jedoch erhalten – und genau das macht Enthymeme rhetorisch stark. -
Entscheidung im Ungewissen:
Enthymeme helfen, wenn keine absolute Wahrheit vorliegt.
Ihre Prämissen sind nicht beliebig, sondern wahrscheinliche, anerkannte Aussagen oder Regeln.
So gelangt man zu Ergebnissen, die vertretbar, plausibel oder angemessen sind.
Wir verwenden Enthymeme überall dort, wo wir im Ungewissen entscheiden müssen – im Alltag wie im Recht.
Sie liefern keine absolute Wahrheit, aber hinreichende Orientierung.
Genau das braucht der Jurist, der unter Entscheidungszwang steht.
Juristen bevorzugen Enthymeme auch wegen ihrer sprachlichen Kürze.
Was als selbstverständlich gilt, wird weggelassen – wer es trotzdem erklärt, wirkt unprofessionell.
Darum fehlen in juristischen Texten häufig zentrale Prämissen.
Den Gesetzestext zitiert man nicht vollständig, sondern verweist nur („gem. § 433 II BGB“).
Manchmal nutzt auch die Rechtsprechung Enthymeme gezielt, um sich nicht unnötig festzulegen – etwa wenn eine Prämisse zwar für das Urteil passt, aber nicht für künftige Fälle.
Merke:
Enthymeme sind nützlich, aber riskant.
Anfänger sollten alle Schritte ausführlich schreiben.
Erst mit wachsender Sicherheit kann man verkürzen.
Wer Sätze auslässt, riskiert, logische Fehler zu übersehen.
Im Zweifel: prüfen Sie jeden Schluss noch einmal vollständig (1. Prämisse – 2. Prämisse – Schluss).
c) Juristische Begriffe
Wenn juristisches Denken logisch oder gar syllogistisch sein soll, braucht es klare Begriffe.
Ein Begriff muss sowohl einen feststehenden Inhalt (Intension) als auch einen feststehenden Umfang (Extension) haben.
Beispiel:
Inhalt (Intension): „Fohlen“ = „noch nicht einjähriges Pferd“.
Umfang (Extension): alle realen oder gedachten Fohlen.
Begriffsbedeutungen werden in der Jurisprudenz durch merkmalbestimmende Definitionen festgelegt:
Definition: Ein Fohlen (Definiendum) ist ein Pferd und noch nicht einjährig (Definiens).
Die Bedeutung eines Begriffs wird also abstrakt bestimmt,
sein Umfang aber stets am konkreten Sachverhalt festgestellt.
aa) Die Bedeutung von Rechtsbegriffen
Die Ermittlung von Begriffsbedeutungen ist eine Kernkompetenz juristischen Denkens.
Der klassische Syllogismus erfordert inhaltsvolle Begriffe; die juristischen Systeme beruhen auf der Idee, dass Begriffe ein Wesen (essentia) besitzen, das sich durch Merkmale erfassen lässt.
Beispiele:
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„Rate“ = Teilbetrag einer Leistung.
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„Besitz“ = tatsächliche Herrschaft einer Person über eine Sache (§ 854 BGB).
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„Fahrlässigkeit“ = Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 I 2 BGB).
Die Rechtslehre ordnet Begriffe hierarchisch:
Arten werden zu Gattungen zusammengefasst, Gattungen zu Obergattungen – das Generelle wird im Speziellen gesucht und das Spezielle voneinander abgegrenzt.
Exkurs: Begriffsgabelung (Dichotomie)
Der Philosoph Ramus prägte das Prinzip der Begriffsgabelung:
Ein Oberbegriff soll möglichst in zwei Unterbegriffe aufgehen.
Juristische Lehrsysteme streben dies an, auch wenn es selten streng verwirklicht wird.
Beispiele juristischer Dichotomien:
rechtmäßig ↔ rechtswidrig
formell ↔ materiell
zulässig ↔ begründet
Personen ↔ Sachen
entstanden ↔ weggefallen
Innenverhältnis ↔ Außenverhältnis
Auch einfache Verneinungen wie:
vertraglich ↔ nicht vertraglich
streitig ↔ unstreitig
Klassische Begriffsordnung
Je mehr ein Begriff inhaltlich umfasst, desto höher steht er in der Ordnung.
Die Extension eines Oberbegriffs (z. B. „Rechtsgeschäft“) schließt seine Unterbegriffe („Vertrag“, „Kaufvertrag“) ein.
Ein Unterbegriff enthält die Merkmale des Oberbegriffs und zusätzliche Unterschiede (differentia specifica).
Beispiele:
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Turm: begehbares Bauwerk, dessen Höhe ein Mehrfaches seines Durchmessers beträgt.
-
Gattung: „begehbares Bauwerk“
-
Unterschied: „Höhe > Mehrfaches des Durchmessers“
-
-
Angebot: Willenserklärung, die auf einen Vertragsschluss gerichtet und empfangsbedürftig ist.
-
Gattung: „Willenserklärung“
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Unterschied: „auf Vertragsschluss gerichtet, empfangsbedürftig“
-
-
Vertrag: Rechtsgeschäft, das durch mindestens zwei inhaltlich übereinstimmende, aufeinander bezogene Willenserklärungen (Angebot und Annahme) zustande kommt.
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Gattung: „Rechtsgeschäft“
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Unterschied: „Zustandekommen durch Angebot und Annahme“
-
Essentialismus und moderne Sicht
Das Denken in Wesensmerkmalen (essentialistisch) stammt von Platon und Aristoteles, wurde in der Scholastik verfeinert und prägt bis heute unser Alltagsverständnis von Begriffen.
Die moderne Rechtswissenschaft kritisiert diese Sicht:
Sie will, dass die Bedeutung eines Rechtsbegriffs allein der Gesetzgeber festlegt – nicht Wissenschaft oder Rechtsprechung.
Wo der Essentialismus abgelehnt wird, verliert auch der Syllogismus seine Grundlage.
In der Praxis jedoch, vor allem in der Fallbearbeitung, hält sich das essentialistische Denken bis heute.
Beispiele aus der Rechtsprechung:
„Grundrechte gehören zu den Wesensbestandteilen der verfassungsmäßigen Ordnung.“
„Mit der Eheschließung obliegt dem Ehepartner die Verpflichtung, die eheliche Lebensgemeinschaft einzugehen, die als Wesensinhalt die Beistandspflicht umfasst.“
Merke:
Ob es ein „Wesen“ oder „Wesensmerkmale“ von Begriffen wirklich gibt, ist philosophisch umstritten.
Für die juristische Falllösung dürfen Sie es praktisch voraussetzen – verwenden Sie den Ausdruck aber sparsam.
Sprechen Sie lieber von Inhalt, Gehalt oder begrifflichen Voraussetzungen.
bb) Definitionen
Zurück zum klassischen Denken in Gattungen und Arten sowie der Idee wesensbestimmender Merkmale. Auch wenn diese Tradition abnimmt, bleibt sie nicht nur für die rechtswissenschaftliche Systembildung bedeutsam, sondern auch Grundlage einer der wichtigsten juristischen Techniken: der Bildung von Definitionen.
Merke: Eine Definition besteht aus dem zu erklärenden Teil (Definiendum) und dem erklärenden Teil (Definiens).
Warum sind Definitionen für Juristen so wichtig?
Bei der Anwendung eines Gesetzes oder Vertrages auf einen Sachverhalt steht regelmäßig in Frage, was der verwendete Begriff bedeutet. Die Antwort gibt in vielen Fällen eine Definition.
Beispiel:
Kann C gegen E wegen des überlassenen Cabrios einen Rückgabeanspruch gemäß §§ 604 Abs. 1, 598 BGB geltend machen? Voraussetzung ist, dass C und E einen Leihvertrag geschlossen haben.
Der Begriff „Leihvertrag“ ist allerdings abstrakt. Was bedeutet „Leihvertrag“? Es ist schwer, den Abstand zwischen dem Gesetzesbegriff und dem konkreten Sachverhalt zu überbrücken. Hier hilft eine Definition:
Definition: Leihvertrag = Verpflichtung zur vorübergehenden unentgeltlichen Gebrauchsüberlassung.
Die Grafik (gedanklich) zeigt: Definitionen liefern den Mittelbegriff zwischen dem fraglichen Normbegriff („Leihvertrag“) und dem Sachverhalt. Norm und Sachverhalt können mit Hilfe der Definition verklammert werden—oft ergänzt durch weitere, noch konkretere Begriffserklärungen.
Das Definiens systematisiert und spezifiziert den Begriff Leihvertrag; man kennt dadurch seine differentia specifica.
Hier: das Spezifische eines Leihvertrags im Verhältnis zu anderen Verträgen, nämlich die Merkmale Verpflichtung zur vorübergehenden und unentgeltlichen Gebrauchsüberlassung. Dadurch vermehren sich die zu prüfenden Bezugspunkte zum Sachverhalt. Statt der einen Frage „Leihvertrag?“ stellt man drei Fragen:
– Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung?
– Vorübergehend?
– Unentgeltlich?
So wird das Prüfinstrument feiner und erlaubt besseren Anschluss an andere konkrete Vergleichsfälle.
Definitionen dienen dazu,
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das Wesen einer Sache zu bestimmen (Einordnung ins Begriffssystem und Formulierung ihrer Eigenheit),
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einen Begriff zu klären und Verständigung darüber zu ermöglichen,
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Sprachverwendungen festzuhalten (z. B. gängige Wortbedeutung) oder
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eine bestimmte Begriffsbedeutung festzulegen (stipulative Definitionen).
In Rechtslehre, Gesetzgebung und Rechtsanwendung werden alle Arten von Definitionen verwendet. Dabei wählt der Jurist nach praktischer Funktion und mischt bisweilen, was methodisch streng genommen nicht zusammenpasst.
(1) Die klassische Definition
Die klassische juristische Definition (aristotelische Tradition) bezeichnet die nächsthöhere Gattung (genus proximum) und bildet den Artunterschied (differentia specifica).
Beispiel (nächsthöhere Gattung):
Ein Schimmel – ist ein weißes (Artunterschied) Pferd (Gattung).
Der Artbegriff „Schimmel“ wird der Gattung „Pferd“ zugeordnet und weist das spezifische Merkmal „weiß“ auf—die Besonderheit gegenüber anderen Pferden (Rappe, Brauner, Fuchs).
Beispiel:
Ein Turm – ist ein begehbares Bauwerk (Gattung), dessen Höhe ein Mehrfaches seines Durchmessers beträgt (Artunterschied).
Rechtsbeispiel:
Ein Anspruch – ist das Recht (Gattung), von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (Artunterschied).
(2) Andere Definitionsarten
Während die ältere Rechtslehre wesensbezogene Definitionen anstrebte, sind heute auch andere Formen üblich. Häufig nutzt man konditionale Regelschemata: Der definierte Begriff liegt vor, wenn die im Definiens angeführten Merkmale vorliegen. Es muss nicht das „Wesen“ getroffen werden.
Beispiel:
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2 BGB).
Hier zielt das Definiens weniger auf „Wesen“, sondern rechtspolitisch auf einen bestimmten Haftungsmaßstab ab („verkehrsüblich“).
Weiteres Beispiel:
Der angemessene Unterhalt bestimmt sich nach der Lebensstellung des Bedürftigen.
Mitunter werden klassische und konditionale Definitionen nebeneinander verwendet:
Beispiel § 29 WpÜG
(1) Übernahmeangebote = Angebote (Gattung), die auf den Erwerb der Kontrolle gerichtet sind (Artmerkmal).
(2) Kontrolle ist (= immer wenn) das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte an der Zielgesellschaft.
Typisch sind auch stipulative Definitionen (Begriffsverwendungsanweisungen):
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„Die ABC-Electronic-Communications GmbH – im Folgenden: ABC – …“
-
„Die ABC-Electronic-Communications GmbH – Klägerin – …“
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„Arbeitnehmer … im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeiter und Angestellte einschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten …“
Viele in der Rechtslehre gebräuchliche Definitionen genügen außerjuristischen Anforderungen nicht. Juristisch eigentümlich sind etwa offene Definitionen („… insbesondere …“) oder Definitionen durch Beispiele/Fallgruppen:
Beispiel:
„Landwirtschaft im Sinne dieses Gesetzbuchs ist insbesondere der Ackerbau, die Wiesen- und Weidewirtschaft einschließlich Tierhaltung … die gartenbauliche Erzeugung, der Erwerbsobstbau, der Weinbau, die berufsmäßige Imkerei und die berufsmäßige Binnenfischerei.“
Damit vermeidet man endgültige Festlegung, um Entwicklungen aufzufangen.
Häufig ergibt sich die Bestimmtheit erst aus den Regelungsumständen. Manche Definitionen sind mehrdeutig, weil mehrere Merkmale mit „und“ gereiht werden, ohne dass klar ist, ob sie kumulativ (alle) oder disjunktiv (alternative) vorliegen müssen.
-
Kumulativ-Beispiel:
„Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams.“ -
Disjunktive Beispiele:
bei „Arbeitnehmer“, „Landwirtschaft“—es genügt eines der genannten Attribute (z. B. berufsmäßige Imkerei).
Auch das Wort „oder“ ist mehrdeutig: ausschließend („entweder … oder“) vs. nicht ausschließend („dies oder das oder beides“).
Sonderproblem: Ist eine Aufzählung abschließend (enumerativ) oder typisierend (Übertragung auf Vergleichbares erlaubt)?
Merke: Juristische Definitionen sind oft logisch unbefriedigend, erfüllen aber einen praktisch-argumentativen Zweck.
Stolpern Sie über Unstimmigkeiten, fragen Sie zuerst: Kommt es darauf an?
– Nein: lassen Sie es liegen.
– Ja: sprechen Sie es kurz an und entscheiden Sie sich fallbezogen.
(3) Legaldefinitionen
Der Gesetzgeber erklärt punktuell durch eigene Definitionen innerhalb eines Gesetzes, wie seine Begriffe zu verstehen sind. Diese Legaldefinitionen (lat. lex, leges) gehen Auslegungen von Lehre und Rechtsprechung vor.
Merke: Bei der Fallbearbeitung zuerst nach einer Legaldefinition suchen.
Tipp: Lesen Sie Gesetzestexte und markieren Sie Definitionen.
(4) Anforderungen an eine Definition
Eine gute Definition sollte (Aristoteles):
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spezifisch sein (nur Artmerkmale, die anderen Arten der Gattung fehlen),
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eindeutig, widerspruchsfrei, weder zu eng noch zu weit,
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nicht zirkulär (Definiendum darf nicht im Definiens auftauchen).
Falsch: „Ein Anspruch ist ein Recht, mit dem man von einem anderen etwas beanspruchen kann.“
cc) Die Verständigung über Rechtsbegriffe
Bisher ging es um Begriffsinhalt und seine Erfassung (Wesen, Merkmale, Platz im System).
Eine andere Frage ist: Wie verständigt man sich über Begriffsbedeutungen?
Theoretisch könnte jeder die Inhalte für sich ermitteln; im Recht kommt es jedoch darauf an, fortlaufend Einverständnis über die Bedeutung von Texten zu erzielen—vor allem über Wortlaut und Sinn der Gesetze. Verstehen muss man außerdem die Texte der Obergerichte, Kollegen, Wissenschaft, Medien und der Rechtsuchenden.
Im Alltag gelingt Verständigung meist leicht:
Kontext ist bekannt, man redet über Vertrautes, korrigiert sich durch Rückmeldungen, und man nimmt an, dass Wörter „Namen von Dingen“ sind—Zeichen repräsentieren Tatsachen; Zuordnung ist wahr oder falsch.
Auch die Rechtsdogmatik beruht weitgehend auf dieser Vorstellung: Es gibt feststehende Bedeutungen, zumindest einen Bedeutungskern, den man im Lexikon findet.
In der Praxis ist es komplizierter.
Beispiel:
§ 123 StGB stellt das widerrechtliche Eindringen in die „Wohnung“ unter Strafe.
Meist ist klar, was „Wohnung“ meint (Mietwohnung, Eigenheim). Der Begriff wirkt klar und verständlich.
(1) Gesetzesinterpretation
In Einzelfällen entstehen Zweifel:
Beispiele:
Zelt, Abstellraum, PKW, Schiff, LKW mit Schlafkabine, Rohbau.
Der Begriff „Wohnung“ ist zu abstrakt, um ohne Weiteres zu entscheiden, ob der Gesetzgeber auch diese Fälle erfassen wollte. Bestehen Zweifel am Inhalt einer Norm, ist sie auszulegen (zu interpretieren).
Dabei ermittelt man den maßgeblichen Inhalt des Gesetzes.
Es gibt vier Positionen—je nachdem, ob man
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den subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers,
-
dessen objektivierten Willen,
-
den gegenwärtig bewerteten Sinn oder
-
eine objektiv feststellbare Gesetzesbedeutung für maßgeblich hält.
Nach herrschender Auffassung (auch BVerfG) ist der objektiven Theorie (4) zu folgen:
„Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner Mitglieder. Die Entstehungsgeschichte hat nur insoweit Bedeutung, als sie eine nach den genannten Grundsätzen ermittelte Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt.“
In der Literatur wird dieser Ansatz als idealistisch kritisiert: Subjektive Bewertungen des Interpreten würden unter dem Etikett eines „objektivierten Gesetzeswillens“ versteckt—subjektiv blieben sie dennoch.
Merke: Bei der Normtextauslegung lautet die Grundfrage:
Was meint das Gesetz mit diesem Begriff?
Nicht: Was haben die damaligen Schöpfer der Norm gemeint?
Das Gesetz wird also gedacht wie eine heute zu den Rechtsunterworfenen sprechende Person. Natürlich spricht faktisch nicht das Gesetz, sondern die Interpreten—die sich vorstellen, ihm ihre Stimme zu leihen.
(2) Der Auslegungskanon
Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass der Vorgang der Begriffsauslegung methodisch umstritten ist. Wissenschaft und Praxis haben sich jedoch seit Längerem auf verschiedene Auslegungsweisen geeinigt (die wir später im Einzelnen vertiefen). Hier nur die wichtigsten nach Savigny:
-
Grammatische Auslegung – Auslegung aus dem Wortlaut
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Systematische Auslegung – Auslegung aus dem Zusammenhang
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Historische Auslegung – Auslegung aus der Entstehungsgeschichte
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Teleologische Auslegung – Auslegung nach Sinn und Zweck
Ausgangspunkt einer Auslegung ist immer die grammatische Auslegung bzw. die Wortlautgrenze.
Grammatische Auslegung
Sie sucht—trotz ihres Namens—den Bedeutungssinn des einzelnen Begriffs (allgemeinsprachlich oder fachsprachlich). Legaldefinitionen haben Vorrang.
Beispiel:
Nach § 5 S. 2 Tierschutztransportverordnung müssen „Fohlen und Halfter ungewohnte Tiere“ beim Schienentransport nicht angebunden werden. Ist fraglich, ob das junge Przewalski-Pferd Proteus ein „Fohlen“ i.S.d. Vorschrift ist, ist zunächst der Wortsinn zu klären. Das ist keineswegs trivial: Alltags- und Fachsprache können divergieren, Sprache wandelt sich, Bedeutungen hängen von Verwendungssituationen ab.
Historische Auslegung
Sie untersucht den Willen des historischen Gesetzgebers („subjektive Theorie“ im klassischen Kanon). Es geht nicht um eine psychologisch-realistische Rekonstruktion einzelner Abgeordneter, sondern um Vorläufernormen (Dogmengeschichte) und Entstehungsgeschichte (genetische Auslegung). Quellen: Gesetzesmaterialien, amtliche Begründungen.
Beispiel:
Art. 2 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit …“.
Ein passionierter Reiter R durfte im Wald nicht umherreiten—lag eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG vor?
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Wortlaut: spräche dafür, nur den „Kern der Persönlichkeit“ zu schützen; Reiten träfe diesen Kern nicht → keine Grundrechtsverletzung.
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BVerfG: orientierte sich am ursprünglichen Formulierungsvorschlag („Jeder kann tun und lassen, was er will …“). Ohne inhaltliche Änderung wählte man aus sprachästhetischen Gründen die heutige Fassung. Geschützt ist die Allgemeine Handlungsfreiheit—auch das bloße Reiten fällt in den Schutzbereich.
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Ergebnis im Fall: Der Eingriff war gerechtfertigt, da das nordrhein-westfälische Landschaftsschutzgesetz eine verfassungsgemäße Grundlage bot.
Systematische Auslegung
Sie betrachtet Normen als Teil eines geordneten Systems und berücksichtigt Prinzipien wie Widerspruchsfreiheit, enge Auslegung von Ausnahmen, keine Ausdehnung enumerativer Aufzählungen.
Teleologische Auslegung
Sie fragt nach Sinn und Zweck der Regelung (griech. telos = Ziel) und bringt den objektiven Ansatz am deutlichsten zur Geltung. Da Sinn und Zweck wandelbar sein können, eröffnet sie den größten Spielraum—das erhöht die Begründungslast: besonders sorgfältige, gründliche und nachvollziehbare Argumentation ist erforderlich.
Weitere Auslegungsweisen
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Verfassungskonforme Auslegung – aus dem Vorrang der Verfassung
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Unions- bzw. richtlinienkonforme Auslegung – aus Art. 267 AEUV (Vorlagepflicht) und Art. 4 Abs. 3 EUV (Loyalität)
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Rechtsvergleichende Auslegung (nach Peter Häberle)
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Authentische Auslegung – durch den Urheber des Textes selbst
Merke: Rangordnung und Reihenfolge sind nicht starr. Die Rechtsprechung nutzt oft nur einzelne Ansätze oder „durchläuft“ den Kanon, bis die Zweifel beseitigt sind.
Studierende sollten bei textlichen Zweifeln (aber nur dann!) die Formen möglichst vollständig und in der genannten Reihenfolge abhandeln—mit fallgerechten Schwerpunkten.
Das heißt: Immer mit der grammatischen Interpretation beginnen, aber sich nicht zwingend mit deren Ergebnis zufriedengeben. Maßgeblich ist der objektivierte Wille des Gesetzes. Sprachgepflogenheiten sind ein wichtiges Indiz, jedoch keine absolute Grenze.
„Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende Wille. […] Dem Ziel, den im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, dienen die nebeneinander zulässigen, sich ergänzenden Methoden: Wortlaut, Zusammenhang, Zweck sowie Gesetzesmaterialien/Entstehungsgeschichte. Dabei ist in der Regel mit der Wortlautauslegung zu beginnen …“
Besonderheit Strafrecht: Die Wortlautgrenze darf wegen des Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht überschritten werden.
Im Rahmen der Rechtsanwendung sind diese Auslegungsweisen geeignet, begriffliche Zweifel auszuräumen und zu eindeutigen, tragfähigen Ergebnissen zu führen—als Basis gleichmäßiger Entscheidungen. Außerhalb akuter Fallbearbeitung ist die methodische Analyse freilich wünschenswert.
d) Aufgaben der Begriffs- und Systembildung im Recht
Juristische Begriffe, Definitionen und Systeme ermöglichen es,
-
den Rechtsstoff als Fachwissen zu ordnen,
-
Begriffe in einen anerkannten Ordnungszusammenhang zu stellen,
-
für die Rechtsanwendung ein Suchsystem bereitzuhalten,
-
für die Gesetzesauslegung Mittelbegriffe (insb. Definitionen / begriffliche Voraussetzungen) zu liefern.
Merke, freilich: Kein Begriffssystem ist vollkommen.
Die rechtsbegriffliche Systembildung zählt zu den Stärken der Jurisprudenz—doch nie vollständig oder streng logisch. Sie erfasst zuverlässig die Kerngebiete (weite Teile von BGB, StGB, VwR), weist aber auch dort gelegentlich Inkonsistenzen auf.
Ursachen:
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Gesetzgeber trifft bei z. B. EU-Umsetzungen Grundentscheidungen, verarbeitet politische Prozesse—logische und bewährte dogmatische Gesichtspunkte können nicht immer voll berücksichtigt werden.
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Rechtsprechung übt Druck aus: Die Dogmatik muss fortlaufend Gerichtsentscheidungen integrieren—und gibt umgekehrt Strukturierung durch Kommentare in die Praxis zurück.
Merke: Juristische Begriffssysteme ordnen Wissen und unterstützen die Anwendung. Sie sind nicht perfekt und im Wandel, erlauben aber zuverlässige Verständigung und Einigkeit bei der Falllösung.
2. Justizsyllogismus: pragmatische Regelanwendung
Das Denken in Systemen und Begriffslogik hilft beim Abstrakten. Für konkrete Fragen („Hat V einen Anspruch auf 100 €?“ / „Hat sich A wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht?“) nutzt man primär andere Werkzeuge. Bewährt hat sich der Justizsyllogismus—keine rein logische Figur, sondern eine pragmatische, fall- und handlungsorientierte Argumentkette.
a) Rechtsanwendung als pragmatische Entscheidung
Der strenge logische Syllogismus ist rational beeindruckend, aber ungeeignet für die konkrete Rechtsanwendung: Der Syllogismus kennt keinen Begriff für den Einzelfall. Gleichwohl können wir eine Fallfrage „quasi-syllogistisch“ aufziehen—tatsächlich schließen wir aber pragmatisch, indem wir Lücken intuitiv überbrücken.
Skizze:
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Obersatz: (Wenn) Kaufvertrag → (dann) Verkäufer hat Anspruch auf vereinbarten Kaufpreis.
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Untersatz: Die Vereinbarung zwischen V und K ist ein Kaufvertrag.
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Schluss: V hat gegen K Anspruch auf 100 €.
Sinnvoll—aber streng logisch nicht sauber:
aa) Der konkrete Schluss („V hat … 100 €“) korrespondiert nicht identisch mit dem abstrakten Prädikat im Obersatz („Verkäufer hat Anspruch …“). Logisch bräuchte es eine weitere Prämisse (V ist Verkäufer; K ist Käufer, etc.). Drei Prämissen → kein Syllogismus. Zudem wird „=“ in jedem Satz anders verwendet (Zuordnung vs. Folgerung).
bb) Für einen zwingenden Schluss müssten die Prämissen wahr sein. „Aus einem Kaufvertrag folgt, dass der Verkäufer den Kaufpreis verlangen kann“ ist nur grundsätzlich richtig. Ausnahmen (z. B. Rücktritt) sind möglich. Die Prämisse ist somit kontextabhängig („wahrscheinlich“). Aus Wahrscheinlichkeitsprämissen folgen nur wahrscheinliche Schlüsse. Korrekt hieße es: „… sofern keine Ausnahmen vorliegen.“ Das genügt dem Entscheidungsbedarf jedoch nicht. Juristische Prüfung verlangt unbedingte Zwischenergebnisse; Ausnahmen werden nachgelagert geprüft. Deshalb braucht es ein geordnetes, aber zielorientiertes Schlussverfahren—das leistet der Justizsyllogismus.
Merke: „Grundsätzlich“ = Regel gilt, Ausnahmen sind möglich.
b) Anwendung von Rechtsnormen
Der Justizsyllogismus lässt die abstrakte Begriffsarbeit zurücktreten und stellt das Gesetz in den Vordergrund—das zentrale Werkzeug im Civil Law.
Kleiner Exkurs: Gesetz
Wenn hier von „Gesetz“ die Rede ist, ist das methodisch gemeint und umfasst Rechtsnormen aller Art: nicht nur Parlamentsgesetze, sondern auch Satzungen, Verordnungen, EU-Verordnungen, Tarifverträge u. Ä.
Rechtsnormen beziehen aus den Rechtsquellen ihren normativen Inhalt (Rechtssatz). Die Rechtsquelle begründet die Rechtsqualität der Norm.
Wenn man Sie fragt: „Nennen Sie das Gesetz“ oder „Wo steht die einschlägige Vorschrift?“, erwartet man die Fundstelle des passenden Rechtssatzes (Paragraph/Artikel) innerhalb eines Gesetzbuchs/-werks (z. B. BGB)—möglichst genau:
„§ 326 Abs. 1 S. 1, 1. Halbsatz BGB“.
Exkurs Ende
aa) Tatbestand und Rechtsfolge
Rechtsnormen folgen meist einer Grundstruktur: „Immer wenn …, dann gilt …“. Anders gesagt, sie bestehen aus einer
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normativen Beziehung („gilt/soll gelten“),
-
abstrakt-generellen Reichweite („immer für alle Fälle“),
-
konditionalen Verknüpfung („Wenn …, dann …“).
Beispiele
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§ 303 Abs. 1 StGB:
Wenn jemand rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, dann soll er mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. -
§ 604 Abs. 1 BGB:
Wenn die für die Leihe bestimmte Zeit abgelaufen ist, dann ist der Entleiher verpflichtet, die geliehene Sache zurückzugeben.
Das „Wenn“ nennt man den Tatbestand einer Norm, das „Dann“ die Rechtsfolge.
Der Tatbestand beschreibt die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Rechtsfolge eintritt. Beide sind konditional verknüpft.
Merke: Nicht alle Gesetze trennen Tatbestand und Rechtsfolge klar. Analysieren Sie die Aufteilung nötigenfalls nach Sinn und Zweck der Norm—und üben Sie die Zuordnung regelmäßig.
Weitere Beispiele
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§ 212 StGB
Tatbestand: Wenn ein Mensch getötet wird und der Täter kein Mörder ist, …
Rechtsfolge: … wird er mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. -
§ 32 Abs. 1 StGB
Tatbestand: Wenn jemand eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, …
Rechtsfolge: … dann ist diese nicht rechtswidrig. -
§ 433 Abs. 1 BGB
Tatbestand: Wenn ein Kaufvertrag vorliegt, …
Rechtsfolge: … dann muss der Verkäufer dem Käufer die Sache übergeben und das Eigentum frei von Sach- und Rechtsmängeln verschaffen. -
§ 985 BGB
Tatbestand: Wenn jemand Eigentümer ist, …
Rechtsfolge: … dann kann er vom Besitzer die Herausgabe verlangen. -
§ 362 Abs. 1 BGB
Tatbestand: Wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird, …
Rechtsfolge: … dann erlischt das Schuldverhältnis. -
Art. 16a Abs. 1 GG
Tatbestand: Wenn jemand politisch verfolgt wird, …
Rechtsfolge: … dann genießt er Asyl.
bb) Das Gesetz als Prämisse
Will man aus einem Obersatz nach dem Schema „Tatbestand → Rechtsfolge“ auf den konkreten Fall schließen, empfiehlt sich folgendes Schema (statt eines formalen Syllogismus):
-
Wenn A, dann B.
-
a ist ein Fall von A.
-
Also gilt für a: B.
Beispiele
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Zivilrecht
P1: Wenn ein Kaufvertrag vorliegt, hat der Verkäufer gegen den Käufer einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises.
P2: Gemäß Sachverhalt haben V und K einen Kaufvertrag geschlossen.
Ergebnis: V hat gegen K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises. -
Strafrecht
P1: Wenn eine Sachbeschädigung vorliegt, folgt daraus die Strafbarkeit (§ 303 Abs. 1 StGB).
P2: A hat eine Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB begangen.
Ergebnis: A hat sich wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Abstraktes Muster
-
Prämisse: Wenn Tatbestand erfüllt → Rechtsfolge.
-
Prämisse: Sachverhalt erfüllt Tatbestand.
-
Ergebnis: Sachverhalt → Rechtsfolge.
Der etablierte Name hierfür ist „Justizsyllogismus“. Viele Autoren lehnen den Begriff ab, weil es kein echter Syllogismus ist; teils wird betont, es handle sich vielmehr um einen rhetorischen Schluss (Wahrscheinlichkeits-Enthymem).
Alltägliches Wahrscheinlichkeits-Enthymem
„Ich gehe zu Fuß, denn es ist trocken.“
P1: Wenn es trocken ist → gehe ich zu Fuß.
P2: Es ist trocken.
Also: Ich gehe zu Fuß.
Grundschema (probabilistisch)
P1: Wenn A, dann in der Regel (Ausnahmen denkbar) B.
P2: a ist ein Fall von A.
Also: gilt für a B.
Die Unschärfen sind pragmatisch unschädlich: Absolute Gewissheit ist nicht erforderlich; für den vorliegenden Fall genügt eine hinreichend sichere Entscheidungsgrundlage. Ausnahmen können anschließend diskutiert werden. Das Schema bleibt stringent.
Vorschlag: Den eingeführten Namen „Justizsyllogismus“ beibehalten.
c) Vorteile des Modells „Justizsyllogismus“
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Die Begriffe werden nicht nach ihrem „Wesen“ geordnet.
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P1 kann jeder Rechtssatz sein (Gesetz, Verordnung, Satzung, Vorschrift, Grundsatz, Lehrsatz, Leitsatz), der sich konditional fassen lässt („Wenn Tatbestand → Rechtsfolge“).
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P2 stellt fallbezogen das Vorliegen der tatbestandlichen Bedingung fest.
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Der Schlusssatz überträgt die Rechtsfolge auf den Einzelfall.
Der Justizsyllogismus ist moderner und flexibler als der klassische Syllogismus. Er passt auch dann, wenn man keine wesenshaltige Begriffsordnung voraussetzt. Nach heutigem Verständnis bestimmen Gesetzgeber (demokratisch legitimiert) und Fachautoritäten die Zuordnung der Rechtsbegriffe.
Merke: Juristische Schlüsse zieht man fallbezogen aus der Normprämisse „Tatbestand → Rechtsfolge“. Theorie mag strittig sein; praktisch ist das Grundmodell nicht zu bezweifeln.
3. Erweiterung des Schemas: der vollständige Justizsyllogismus
Das Basisschema:
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P1: Wenn Tatbestand erfüllt → Rechtsfolge.
-
P2: Sachverhalt erfüllt Tatbestand.
-
Ergebnis: Sachverhalt → Rechtsfolge.
Stehen P1 und P2 fest, ist der Schluss trivial. Juristische Arbeit steckt in der Ermittlung von P1 und P2:
-
Welche Norm ist einschlägig (P1)?
-
Erfüllt der Sachverhalt deren Tatbestand (P2)?
Gerade P2 („Sachverhalt erfüllt Tatbestand“) ist Kernarbeit. Daher ergänzen Methodenlehren das Hauptschema um ein Nebenschema, in dem P2 begründet wird. P2 des Hauptschlusses wird dabei zum Schlusssatz des Nebenschlusses.
Beispiel
Hauptschluss
P1: Sachbeschädigung → Strafbarkeit.
Nebenschluss
P1′: Sachbeschädigung (objektiver TB) = fremde Sache beschädigen oder zerstören.
P2′: A hat B’s Orchidee zertreten.
P2: A hat eine Sachbeschädigung begangen (objektiver TB).
Also (Hauptschluss): A hat sich strafbar gemacht.
Abstrakt
Hauptschluss
P1: Tatbestand → Rechtsfolge (§).
Nebenschluss
P1′: Tatbestand – Merkmale.
P2′: Sachverhalt – Merkmale.
P2: Sachverhalt erfüllt Tatbestand.
Also: Sachverhalt → Rechtsfolge.
Erläuterung
P1′ definiert den Tatbestand (z. B. „Sachbeschädigung = …“).
P2′ ordnet den Sachverhalt den Merkmalen zu.
Das Zwischenergebnis des Nebenschlusses bestätigt P2 des Hauptschlusses.
Endergebnis: Rechtsfolge gilt.
Merke: P1′ und P2′ können ihrerseits weiter begründet werden (weitere Definitionen, Auslegung etc.). Dafür braucht es Informationskompetenz.
Merke: Der Justizsyllogismus fokussiert auf das Wesentliche. In P1, P1′ usw. werden nicht alle denkbaren Merkmale abgearbeitet—sondern nur die im konkreten Fall erheblichen (im Strafrecht: sämtliche TB-Merkmale; im Prozessrecht: nicht jede Klagevoraussetzung, wenn sie unstreitig ist).
4. Nebenschema: Schwerpunkt der Begründung
Das entscheidende juristische Urteil fällt nicht mit dem Schlusssatz des Hauptschlusses, sondern mit P2 (Untersatz):
-
„Gemäß Sachverhalt besteht ein Kaufvertrag.“
-
„A hat eine Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB begangen.“
Diese Feststellungen werden nicht aus der Norm (P1) logisch abgeleitet, sondern im Nebenschema erarbeitet:
-
Definition des Norminhalts (P1′) → Merkmale,
-
Subsumtion des Sachverhalts unter diese Merkmale (P2′),
-
Schluss auf P2 („TB erfüllt“).
Ggf. sind weitere Definitionsebenen nötig (Merkmale von Merkmalen).
Dass ein Kaufvertrag vorliegt, folgt nicht aus § 433 Abs. 2 BGB, sondern aus der Definition: Angebot + Annahme, und der Subsumtion, ob diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen. Das entscheidet über P2.
5. Woher kommen die Tatbestandsmerkmale?
Zentral ist: Welche Merkmale hat der gesetzliche Tatbestand / welche Voraussetzungen die Rechtsfolge? Wie bildet man P1′ (Definiens des Tatbestands)? Und ggf. die Unter-Definitionen?
Wegen der verfassungsrechtlichen Bindung an das Gesetz folgt man—wann immer möglich—dem Gesetzestext. Die definierenden Merkmale werden aus den gesetzlichen Begriffen gewonnen.
Beispiel: § 303 Abs. 1 StGB – Sachbeschädigung
„Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird … bestraft.“
Merkmalsbildung (Lehre):
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Objektiver Tatbestand
-
Tatobjekt: Sache, fremd
-
Tathandlung: beschädigen / zerstören
-
Man entnimmt die Merkmale dem Gesetz, strukturiert sie aber dogmatisch. Dieses Clustern geht über den Wortlaut hinaus, ist naheliegend, aber nicht zwingend. Mitunter fügen Lehre/Rechtsprechung ungeschriebene Merkmale hinzu; Hauptgeschäft bleibt die Definition der gesetzlichen Merkmale (Inhalt, Bedeutung, Sinn)—methodisch per Auslegung, praktisch im Lichte der Anwendungsfälle und Sachgerechtigkeit.
Merke: Tatbestandsmerkmale/Voraussetzungen sind—trotz Gesetzesnähe—eine Leistung der Rechtsdogmatik. Wer Normen anwendet, muss Definitionen und Merkmale kennen bzw. sich informieren.
6. Subsumtion
Ursprünglich bedeutet Subsumtion die Zuordnung des Falls (Tatsachen) zum Recht (Sollen). Mit dem Nebenschema wird sie feiner:
Ursprungsbeispiel
Recht: § 604 Abs. 1 BGB (Rückgabepflicht nach Leihzeit).
Fall: E behält Cs Cabrio länger als vereinbart.
Anwendung: E muss C das Cabrio zurückgeben.
Differenziert mit Nebenschema
Hauptschluss
P1: Leihvertrag → Entleiher muss nach Ablauf der Zeit die Sache zurückgeben.
Nebenschluss
P1′: Leihvertrag = unentgeltliche Gebrauchsüberlassung einer Sache.
P2′: Vereinbarung C/E fürs Wochenende = unentgeltliche Gebrauchsüberlassung einer Sache.
P2: Vereinbarung C/E = Leihvertrag.
Zwischenergebnis: Leihvertrag (+).
Endergebnis: Rückgabepflicht (+).
Damit bezieht sich die Subsumtion nicht mehr auf den Tatbestand als Ganzen, sondern auf jedes einzelne Merkmal.
Gelingt die Subsumtion unter die Merkmale, löst das die Rechtsfolge aus—fallbezogen.
III. Methodologische Überlegungen: Wie arbeiten Juristen?
Der Justizsyllogismus ist das bewährte Schema der Normanwendung: geordnetes Vorgehen, Schritt für Schritt. Doch nicht jeder Schritt ist zwingend logisch. Viele Schlüsse im Nebenschema erinnern an den klassischen, wesenshaltigen Syllogismus; daneben gibt es freie argumentative Passagen (Pro/Contra einer Begriffszuordnung).
Das Hauptschema („Wenn–dann“) verlangt modernere Logik. Formale Modelle existieren, haben sich aber in der Praxis nicht durchgesetzt. Der Schwerpunkt liegt im Nebenschema, wo der Justizsyllogismus seine Stärke entfaltet.
„Es ist heute juristisches Allgemeingut, dass die Gesetzesauslegung nicht nur logische Umsetzung eines Textes in einen aktuellen Befehl ist.“ (Kirchhof)
Folge: Der Hauptschluss lässt sich oft formal darstellen, die Nebenschlüsse sind dafür zu komplex. Juristische Arbeit ist mehr als Logik: reale Fälle sind komplex, berühren Interessen und Kontexte.
Im Studium arbeitet man dennoch sinnvoll mit typisierten Ausschnitten. Der Justizsyllogismus ist ein Idealmodell—die erste Struktur, die man erlernen sollte. Vollständige Falllösung verlangt zusätzlich:
-
Erfassung des Sachverhalts und richtige Problemeinordnung,
-
Suche/Auswahl der ersten Prämisse (Norm, Definition, Interpretation),
-
Beherrschung der Begründungs- und Gutachtentechnik,
-
Formulierungs- und Argumentationskunst.
1. Ausgangspunkt: Rechtsproblem
Nur wer den Sachverhalt gründlich liest und über rechtliche Vorkenntnisse verfügt, erkennt das zugrundeliegende Rechtsproblem. Zunächst erfolgt eine grobe Einordnung. Danach beginnt die Suche nach der Lösung: zuerst nach dem passenden Gesetz und einschlägiger Literatur, anschließend in der Rechtsprechung nach vergleichbaren Fällen. Dabei kehrt man immer wieder zum Sachverhalt zurück, um zu prüfen, ob die gefundenen Rechtssätze wirklich passen.
So entsteht eine Kreisbewegung zwischen Sachverhalt und Norm: Die Normanalyse vertieft das Problemverständnis – und umgekehrt schärft das rechtliche Verständnis den Blick auf den Sachverhalt.
Die passende Norm (oder andere Normquelle) bildet die erste Prämisse:
P1: Wenn Sachbeschädigung (§ 303 StGB) → Strafbarkeit.
Diese Prämisse muss gefunden und richtig ausgewählt werden – oft schwieriger als es klingt. Das wäre nur einfach, wenn das Recht ein durchgängig hierarchisches System mit strenger Logik wäre. Tatsächlich existieren solche Ordnungen nur in Ansätzen; vieles ist eher familienähnlich strukturiert. Mit der Zeit entwickeln Juristen ein Gespür dafür, was in Betracht kommt und was abwegig ist.
Ein weiteres Problem liegt in der Rechtssprache: Viele Begriffe bedeuten etwas anderes als in der Alltagssprache. Ob eine Norm wirklich passt, erkennt man erst, wenn man jeden ihrer Begriffe im rechtlichen Sinn verstanden und ggf. ausgelegt hat.
Merke:
Die ersten Prämissen (Rechtsnormen, Definitionen, Auslegungen usw.) müssen Sie selbst finden und auswählen. Dafür brauchen Sie methodische Such- und Entscheidungsstrategien in allen Rechtsgebieten (z. B. Prüfschemata).
2. Arbeitsauftrag: Das Herstellen der Prämissen
Der Streit entfacht sich meist um die zweite Prämisse:
P2: A hat durch seine Tat tatsächlich eine Sachbeschädigung begangen.
Ob das zutrifft, muss oft bewiesen werden. Auch im Gutachten bzw. im rechtlichen Teil einer Urteilsbegründung zielt die Argumentation in der Regel auf die Begründung des Untersatzes (P2) im Nebenschema:
Frage: Hat der Sachverhalt – also die Tat des A – den Tatbestand der Norm erfüllt?
Idealtypisch erfolgt die Prüfung über die begriffsorientierte Auslegung des Tatbestands. Dafür müssen die Prämissen des Nebenschemas gewonnen werden.
Damit steht fest: In der Rechtsanwendung geht es weniger um die logische Verarbeitung fertiger Prämissen, sondern um deren Suche, Formulierung und Begründung. „Recht“ und „Fall“ werden nicht fertig geliefert – sie müssen gedeutet und zueinander in Beziehung gesetzt werden.
Interessant ist also nicht, was passiert, wenn die Prämissen schon da sind, sondern wie man dorthin gelangt: Wie läuft der Findungsprozess? Wie werden Zusammenhänge erkannt, Bedeutungen ausgelegt und Begriffe gebildet?
Die sprachorientierte Methodenlehre sieht deshalb in der Rechtsanwendung vor allem einen Prozess des Suchens, Vernetzens und Sprachgestaltens. Juristische Arbeit hängt eng mit den beteiligten Personen, ihrer Kommunikation und ihrem sozialen Kontext zusammen.
Diese Richtung geht davon aus, dass sowohl der Fall als auch die Vorschriften sprachliche Produkte sind. Recht und Fälle sind Texte, die interpretiert, gedeutet und bezogen werden müssen.
Fazit: Juristen müssen
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Texte sorgfältig lesen,
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gründlich recherchieren,
-
sinnvoll gliedern und einordnen,
-
und Recht sowie Fälle rechtsfachlich (nicht bloß „natürlich“) verstehen.
3. Autorität und Gerechtigkeit
Die rechtsfachliche Sicht wird weitgehend durch Autoritäten geprägt – anerkannte Meinungen und Institutionen (Gerichte). Der Spielraum für persönliche Vorstellungen ist gering; das gewährleistet Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit. Zugleich bleibt die Herstellung der Prämissen wie auch das Verständnis von Recht und Fällen situationsoffen (politische Strömungen, wirtschaftliche Bedingungen). So entsteht ein begrenzter Raum für Erneuerung, Kritik und Sachgerechtigkeit.
Fazit:
Rechtsanwendung beruht auf einer komplexen Technik, die sich nicht in ein paar Regeln erschöpft. Es gibt Grundmuster wie den Justizsyllogismus, aber kein vollständiges Rezept. Der bewährte Weg: jahrelange Einübung als Handlungskompetenz – mit Anleitungen, Gliederungen, Prüfschemata, Wiederholungen und Zusammenarbeit.
B. Der Sachverhalt
I. Vorbemerkung
Ein Sachverhalt beschreibt nicht die Wirklichkeit, sondern textet einen angenommenen Rechtsstreit. Aufgabensteller (Professor:innen, wissenschaftliche Mitarbeitende) erfinden ihn bewusst – oft angelehnt an Urteile oder typische Lehrkonstellationen.
Der Sachverhalt ist vorgegeben und unstreitig. Die Lösung steht regelmäßig fest, auch wenn bei Details Begründungsspielräume bestehen.
1. Sachverhaltskonstruktion in der Praxis
In der Praxis müssen Jurist:innen ihre Sachverhalte selbst ermitteln. Man arbeitet auf zwei Ebenen:
-
Konstruktion dessen, was als Sachverhalt gelten soll,
-
rechtliche Bewertung dieses Sachverhalts.
Häufig liegt der Schwerpunkt auf der Ermittlung (tatsächliches Geschehen), weniger auf der rechtlichen Wertung.
Beispiel 1
A verklagt B auf Übergabe eines Pkw Zug um Zug gegen 4.000 €. A behauptet, man habe sich mündlich auf 4.000 € geeinigt; B behauptet 5.000 €.
Anmerkung: Die Herausforderung liegt nicht primär in der Frage „Kaufvertrag?“, sondern welcher Preis vereinbart wurde.
Ein ermittelter Sachverhalt will nicht Wirklichkeit abbilden, sondern zum Recht passen – wie das Schloss zum Schlüssel.
Beispiel
Die Anwältin interessiert nur das Rechtsrelevante: Ansprüche, tatsächliche Zusammenhänge mit dem Rechtsgrund, Beweise und Beweislast. Alles andere ist unerheblich.
Im Zivilprozess legt der Beibringungsgrundsatz nahe: Parteien bringen den Tatsachenstoff; das Gericht kombiniert daraus den Sachverhalt. Unstreitiges gilt als wahr, über streitiges wird Beweis erhoben. Ob Unbeweisbares dennoch geschehen ist oder Beweisbares wirklich wahr – spielt keine Rolle. Es zählt die verständigte Tatsachengrundlage:
Da mihi facta, dabo tibi ius. – Gib mir die Tatsachen, ich gebe dir das Recht.
2. Der Sachverhalt im Studium
Im Studium ist der Sachverhalt noch künstlicher: eine ausgedachte Geschichte (Standardprobleme, juristischer Humor). Mitunter beruhen Fälle auf echten Entscheidungen, didaktisch abgewandelt.
Der akademische Sachverhalt enthält alle relevanten Tatsachen – äußere wie innere –, sachlich, eindeutig, lückenlos, vollständig.
Beispiel 2
A und B haben einen Kaufvertrag über einen Pkw geschlossen und sich auf 4.000 € geeinigt.
Anmerkung: Anders als in Beispiel 1 ist hier alles fest – keine Beweislücken.
Zusammenfassung:
-
Praxis: Sachverhalt wird ermittelt.
-
Studium: Sachverhalt wird vorgegeben.
Beide dienen demselben Ziel: eine klare Tatsachengrundlage für Subsumtion, Auslegung und Argumentation.
3. Professionalität
Betrachten Sie den akademischen Sachverhalt nicht als reale Geschichte, sondern als Textaufgabe, die nach juristischen Regeln zu bearbeiten ist. Er enthält gezielt aufbereitete Informationen, die zu einem vorgedachten Lösungsweg führen.
Reale Geschichten haben Hintergründe, Emotionen, Atmosphäre – wecken Sympathien/Antipathien und Gerechtigkeitsgefühle. Diese emotionalen Elemente gehören nicht in den juristischen Sachverhalt.
Es ist nicht angebracht, den Sachverhalt mit „Wie fühlt sich das an?“ oder „Was wäre fair?“ zu lesen. Dieser Zugang führt oft in die Irre. Ziel ist juristische Professionalität: sachlich, strukturiert, methodisch.
Das heißt nicht, dass Judiz und Gerechtigkeit im Beruf keine Rolle spielen. Sie haben ihren Platz – nicht jedoch beim methodischen Umgang mit dem vorgegebenen Sachverhalt. In der Ausbildung zählt die juristische Denk- und Prüfstruktur: Sie steuert nicht direkt aufs Ergebnis, sondern arbeitet methodisch.
Merke:
Prüfer liefern keine Realität, sondern eine Textaufgabe – zu der es bereits eine Lösungsskizze gibt.
II. Arbeitsschritte im Umgang mit dem Sachverhalt
Die Arbeit am Sachverhalt ist das Fundament jeder guten Klausur. Nur wer Sachverhalt und Fallfragen vollständig erfasst, kann eine Lösung schreiben, die der Lösungsskizze entspricht.
Erfahrung: Viele Klausurfehler beruhen nicht auf fehlendem Wissen, sondern auf unzureichender Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt.
Merke:
Je besser Sie den Sachverhalt verstehen, desto besser wird die Lösung.
Wer ihn nicht erfasst, schreibt am Problem vorbei.
Typische vier Schritte (teils parallel):
-
Erfassen – Überblick gewinnen.
-
Suchen & Sammeln – Wesentliches herausarbeiten.
-
Ordnen – Struktur & Zusammenhänge erkennen.
-
Verarbeiten – Struktur als Grundlage für rechtliche Schlüsse nutzen.
1) Erfassen: Studieren Sie den Sachverhalt!
Verschaffen Sie sich einen Überblick über Personen, Beziehungen, Vorgänge, Abläufe.
Lesen Sie den Sachverhalt vor der Fallfrage, um unvoreingenommen zu bleiben. Wer zuerst die Fallfrage liest, fokussiert leicht zu früh und übersieht Hinweise.
Gerade komplexe Sachverhalte wirken beim ersten Lesen unklar – das ist normal. Mit jedem Durchgang wird es klarer.
Tipp:
Beim ersten Lesen nur sparsam markieren. Erst nach mehrfacher Lektüre erkennt man die wirklich relevanten Tatsachen.
2) Im Sachverhalt nach Lösungshinweisen suchen
a) Ideenzettel
Erstellen Sie beim ersten Lesen einen Ideenzettel: spontane Gedanken, rechtliche Vermutungen. Diese ersten Einfälle zeigen oft die Richtung.
b) Fallfrage & Bearbeitervermerk
Nachdem der Sachverhalt sitzt, lesen Sie Fallfrage und Bearbeitervermerk. Viele Fehler entstehen durch Missverständnisse. Auch die Fallfrage muss ausgelegt werden – im Kontext des Sachverhalts.
Vermeiden Sie voreilige Festlegungen; suchen Sie nicht sofort nach Normen. Erst das Zusammenspiel von Sachverhalt und Fallfrage ergibt den Prüfrahmen.
c) Nochmaliges Lesen mit Analyse
Das zweite Lesen dient der gezielten Analyse. Jetzt wissen Sie, worum es geht, und suchen Details und Probleme.
In der Klausur ist Zeit knapp, aber das gründliche Lesen ist Teil der Lösung, kein Luxus. Bewerten können Sie nur, was Sie verstanden haben.
Merke:
Konzentriertes, wiederholtes Lesen ist Lösung, nicht Zeitverlust. Nur wer vollständig erfasst, kann richtig subsumieren.
3) Sachverhalte sind wie Rätsel
Betrachten Sie den Sachverhalt wie ein Rätsel. Der Aufgabensteller kennt die Lösung und hat Hinweise eingebaut – offene und versteckte. Diese erkennt nur, wer genau liest und zwischen den Zeilen denkt.
Fast kein Wort ist zufällig. Jede Information hat einen Zweck.
Beispiele für versteckte Hinweise
-
Beispiel 3:
Lehrerin bestellt „Der Drachenläufer“: statt 20 versehentlich 200, reagiert erst zwei Wochen später.
→ Hinweis: Verspätete Reaktion, Merkmal „unverzüglich“. -
Beispiel 4:
Geschenk (iPad) der Großmutter wird von E über eBay verkauft.
4a: iPad im Keller der Großmutter versteckt.
4b: iPad in eigener Wohnung aufbewahrt.
→ Unterschiedlicher strafrechtlicher Befund. -
Beispiel 5:
Pelzmantelverkauf für 500 €, A will Rückabwicklung.
5a: B stimmt zu, nimmt Mantel später heimlich.
5b: B sagt „verkauft ist verkauft“ und nimmt ihn offen.
→ Unrechtsbewusstsein als Tatbestandsmerkmal. -
Beispiel 6:
A tritt wirksam zurück, behält den Wagen und verursacht einen Schaden beim Rückwärtsfahren.
→ Fokus: Sorgfaltspflichten. -
Beispiel 7:
Geselle B lässt Farbeimer stehen; C stürzt. Meister A kennt Bs Unachtsamkeit.
→ Zurechnung, Überwachungspflicht. -
Beispiel 8:
A zahlt an B, trifft nur dessen 10-jährige Tochter K und gibt ihr das Geld; K verprasst die Hälfte.
→ Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Nr. 1 BGB), Erfüllung?
Fazit:
Der Sachverhalt ist kein Erzähltext, sondern ein Werkzeug. Wer ihn gründlich analysiert, findet darin bereits die Schlüssel zur Lösung. Professionalität beginnt mit dem richtigen Lesen.
Übungsfall 1
Aufgabe: Sachverhalt aufmerksam lesen und Hinweise markieren, die auf rechtlich relevante Fragen deuten.
Sachverhalt
A besucht den Zoo im Stadtzentrum. Das Affengehege ist zugänglich. Am Gehege:
„Betreten auf eigene Gefahr“,
„Affen sind neugierig, können aber empfindlich zubeißen“,
„Bitte Ruhe! Keine hastigen Bewegungen!“,
„Hände weg! Auch kleine Affen können empfindlich zubeißen!“
Dazu ein Symbolbild (blutender Finger, brüllender Affe).
A betritt das Gehege; ein Affe springt ihr auf den Kopf. A hebt reflexartig die Hand; der Affe beißt in den Finger.
Stationäre Behandlung, Kosten 4.000 €, von der Versicherung übernommen.
Markierungshinweise (Beispiele):
-
Zoo als Veranstalter/Verkehrssicherungspflicht.
-
Warnschilder: rechtliche Wirkung? Haftungsausschluss?
-
Eigenverantwortung/Kenntnis der Gefahr.
-
Reflex → Mitverschulden (§ 254 BGB)?
-
Schaden; Versicherung hat gezahlt → Forderungsübergang (§ 86 VVG).
Je mehr Sachverhaltsangaben Sie sinnvoll in die Lösung einbauen, desto kompatibler ist Ihre Lösung mit der Lösungsskizze. Schmückungen im Text sind ohne rechtliche Bedeutung – filtern Sie Relevantes von Belanglosem.
Beispiel 9:
Rentner X überfährt eine rote Ampel.
Anmerkung: „Rentner“ ist hier irrelevant, solange nichts Weiteres hinzutritt.
Beispiel 10:
A ist Ausländer, E Deutsche; beide kaufen ein Handy.
Anmerkung: Nationalität ist für den Kauf unerheblich.
Für Anfänger ist die Trennung schwierig, weil die Rechtskenntnis fehlt. Relevanz entsteht, wenn eine Tatsache (Schloss) auf ein Rechtsproblem (Schlüssel) verweist. Dass X Rentner ist oder A Ausländer – mag wichtig erscheinen, wirft hier aber keine Rechtsfragen auf.
Merke:
Beachten Sie jedes Wort im Sachverhalt. Fast jede Information kann ein Hinweis sein. Wichtig ist, was rechtsrelevant ist.
Beispiel – Angebot (Obersatz/Definition/Subsumtion/Ergebnis)
Obersatz:
V könnte ein Angebot abgegeben haben.
Definition:
Ein Angebot ist eine auf Vertragsschluss gerichtete empfangsbedürftige Willenserklärung. Es enthält die essentialia negotii (Vertragspartner, Leistung, Gegenleistung). Indiz: Es kann mit einem einfachen „Ja“ angenommen werden.
Subsumtion:
V fragt K – nach zuvor geäußertem Kaufinteresse – in der Casa mia, ob K seine Goldmünze Krügerrand, 1 Unze, für 950 EUR haben wolle. Damit sind Vertragspartner, Leistung (Verkauf der Münze) und Gegenleistung (950 EUR) bestimmt. Die Erklärung war so bestimmt, dass K sie mit einfachem „Ja“ annehmen konnte.
Ergebnis:
V hat ein vollständiges Angebot abgegeben.
a) Ort der Subsumtion
Subsumiert wird praktisch nicht direkt unter den Gesetzestatbestand, sondern unter die konkretisierten Merkmale (Definition/Auslegung) der tiefsten Gliederungsebene.
Beispiel – Wegnahme (§ 242 StGB):
Tatbestandsmerkmale: Wegnahme – fremde – bewegliche – Sache.
In der Prüfung wird „Wegnahme“ regelmäßig definiert:
Wegnahme = Bruch fremden Gewahrsams und Begründung neuen, nicht notwendig tätereigenen Gewahrsams.
→ Subsumtion unter Bruch, fremder Gewahrsam, neuer Gewahrsam (ggf. Meinungsstreit zum Gewahrsamsbegriff mit Entscheidung).
Merke:
Im Zweifel eine Definition zu viel – besonders bei umstrittenen Kernbegriffen (z. B. Gewahrsam).
b) Bezug auf den Sachverhalt
Das herangezogene Tatsachenelement muss präzise und rechtsmerkmalbezogen formuliert sein – ohne Umformung des SV.
Textvarianten (Angebot):
-
❌ Wörtliche Abschrift des SV – unnötig und unübersichtlich.
-
⚠️ Zu viel Beiwerk (Pizza, Datum), wenn es rechtlich nichts trägt.
-
✅ Treffend zugeschnitten:
„Nach bekundetem Kaufinteresse fragte V den K, ob er die Goldmünze (Krügerrand, 1 Unze) für 950 EUR haben wolle.“
Beispiel Strafrecht – Grausamkeit (§ 211 Abs. 2 StGB):
Obersatz: Möglicherweise liegt Grausamkeit vor.
Definition: Grausam tötet, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Leiden nach Dauer/Stärke/Wiederholung zufügt, die über das zur Tötung Erforderliche hinausgehen.
Subsumtion (richtig): Verhungern ist ein langwieriger, qualvoller Prozess mit anhaltenden Schmerzen und Todesangst; B erlitt über längere Zeit Leiden weit über das zur Tötung Erforderliche.
Ergebnis: Merkmal Grausamkeit (+).
(❌ Falsch wäre die bloße Wiederholung der Rechtsbegriffe ohne Tatsachenbezug.)
c) Die Zuordnung
Am Ende steht die begründete Zuordnung: Sachverhaltselement ↔ rechtliches Merkmal.
Kurzbeispiel:
„Vertragspartner, Leistungs- und Gegenleistungsbestimmung sind erkennbar; die Erklärung war mit einfachem ‚Ja‘ annehmbar.“ → Angebot (+).
Vereinfachung möglich, wenn die Zuordnung evident ist (Zusammenfassen, kurze Feststellung) – aber gedanklich müssen alle Stationen durchlaufen sein.
Mini-Beispiele:
-
Fremdheit:
Fremd = Eigentum/Miteigentum eines anderen.
Orchidee gehörte B → fremde Sache (+). -
Kompaktprüfung (unproblematisch):
„Das Tatobjekt müsste eine fremde Sache sein. Die Orchidee stand im Eigentum des B.“ → ausreichend.
Wenn eine Lücke bleibt:
→ ausführlicher zuordnen, ggf. neue Obersätze (z. B. Auslegung von „haben“ = „kaufen“ gem. §§ 133, 157 BGB).
5. Ergebnis
Am Ende jedes Prüfungsblocks steht die entschiedene Antwort (nicht hypothetisch, ohne „dürfte/wohl“).
Beispiel (Hauptfrage):
Obersatz: V könnte gegen K gem. § 433 II BGB einen Anspruch auf 950 EUR haben.
Endergebnis: V hat gegen K gem. § 433 II BGB einen Anspruch auf 950 EUR.
Zwischenergebnisse (weitere Obersätze):
-
„V hat ein Angebot abgegeben.“
-
„Das Tatobjekt ist eine Sache.“
-
„V hat eine Willenserklärung abgegeben.“
Merke:
Auch wenn spätere Abschnitte relativieren (z. B. Verjährung), wird zunächst klar festgestellt, danach getrennt geprüft:
-
✅ „V hat einen Anspruch… Dieser könnte jedoch verjährt sein.“
-
❌ „V hat einen Anspruch, soweit er nicht verjährt ist.“
Exkurs: Anspruchsaufbau (Zivilrecht)
I. Entstanden?
– TB-Voraussetzungen (+/–)
– rechtshindernde Einwendungen (z. B. § 105, § 138, § 125, § 117, § 134 BGB)
II. Untergegangen?
– rechtsvernichtende Einwendungen (z. B. § 362, § 389, § 275, § 397, § 346, § 158 II BGB)
III. Durchsetzbar?
– rechtshemmende Einreden (z. B. § 214, § 205, § 273, § 320 BGB)
6. Die weiteren Obersätze
Regel: Jede neue juristische Frage erhält einen eigenen Obersatz—knapp, klar, ohne sofortige Normnennung (die Merkmale folgen als Definition).
Beispiele:
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„Fraglich ist, ob es sich um ein Angebot handelt.“
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„Zu prüfen ist, ob das Tatobjekt eine Sache ist.“
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„E müsste Eigentümer, B Besitzer sein.“
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„Fraglich ist, ob der Widerruf rechtzeitig zugegangen ist.“
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„Die Klage müsste begründet sein.“
Struktur darunter:
implizite Prämisse → Definition → Subsumtion → Zwischenergebnis.
7. Sinn fürs Wesentliche
Juristische Darstellung spart Wörter und überspringt Selbstverständliches; für Laien schwer, für Klausuren normal. Wichtig ist die Balance:
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Wesentliches: ausführlich, im vollen Gutachtenstil.
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Sekundäres: kurz streifen.
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Evidentes: knapp feststellen.
Anfänger-Regel: zunächst jedes Merkmal ansprechen; mit Übung selektiv verkürzen (teilweise in Urteilsstil wechseln).
Wie erkenne ich das Wesentliche?
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Sachverhalt: Signalwörter/Indizien (z. B. „B schlief“ → Heimtücke-Problem).
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Dogmatik: bekannte „Hotspots“ des Gebiets.
Beispiel (Tötungsdelikte):
SV: „A erstickt B im Schlaf.“
Unwesentlich: „Mensch“ i. S. d. §§ 211, 212.
Wesentlich: Heimtücke (Arg- und Wehrlosigkeit, Streit zum Schlafenden) → gründlich prüfen.
Merke:
Judiz (Sinn fürs Wesentliche) wächst mit Rechtskenntnis, Fallroutine und der Fähigkeit, mit Unvollständigem methodisch umzugehen.