A. Die Auslegung von Gesetzen
Barbara Völzmann-Stickelbrock
I. Einführung
Manche gesetzlichen Regelungen liest man – und versteht, auch als juristischer Laie, was der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift regeln wollte.
Lesen Sie: § 985 BGB
Der Sinngehalt dieser Norm ergibt sich im Wesentlichen bereits aus ihrem bloßen Lesen.
Wer Eigentümer einer bestimmten Sache ist, hat grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass ihm diese Sache herausgegeben wird.
Der Anspruch richtet sich gegen denjenigen, der gerade im Besitz der Sache ist, also die tatsächliche Sachherrschaft darüber ausübt.
Andere gesetzliche Regelungen versteht man aus ihrem Wortlaut allein jedoch nicht.
Lesen Sie: § 242 BGB
In dieser Vorschrift steht alles und nichts.
Es ist jedoch anerkannt, dass ihr über den Wortlaut hinaus ein das gesamte Rechtsleben prägender Grundsatz zu entnehmen ist – nämlich, dass jedermann bei der Erfüllung seiner Vertragspflichten nach Treu und Glauben zu handeln hat.
Gesetze sind daher auszulegen, das heißt: Ihr Sinn ist zu erforschen.
Es ist zu fragen: Welche Bedeutung hat die Regelung?
Welchen Fall betrifft sie?
Zumeist hängt die Auslegung eines Gesetzes vom Verständnis einzelner Tatbestandsmerkmale ab.
Beispiel:
Im Fall des § 985 BGB kann man sich fragen, was der Gesetzgeber mit Eigentümer, Besitzer und Herausgabe meint.
Sind alle Formen des Eigentums gemeint, also auch das Miteigentum?
Ist auch der mittelbare Besitzer erfasst?
Was muss der Besitzer zur Herausgabe der Sache genau tun?
Manchmal ist auch ein ganzer Teil einer Norm auslegungsbedürftig.
Beispiel:
Im Rahmen des § 242 BGB wird nicht zwischen den Tatbestandsmerkmalen „Treu“ und „Glauben“ unterschieden – ausgelegt wird stets nach „Treu und Glauben“.
Ziel der Auslegung ist es, den im Gesetzeswortlaut verobjektivierten Willen des Gesetzgebers zu ermitteln (sog. objektive Theorie).
Nicht entscheidend ist der subjektive Wille des Gesetzgebers.
Dieser lässt sich oft gar nicht feststellen – insbesondere bei älteren Gesetzen – und kann durch gesellschaftliche Veränderungen ohnehin überholt sein.
Zur Erforschung des objektivierten gesetzgeberischen Willens hat die Rechtswissenschaft mehrere Auslegungsmethoden entwickelt.
Merke:
Auslegungsmethoden sind:
-
die sprachlich-grammatikalische,
-
die systematische,
-
die teleologische und
-
die historische Auslegung.
Vorüberlegung der Auslegung:
-
Ist eine Norm überhaupt auslegungsbedürftig?
-
Bestehen Zweifel am Regelungsgehalt der Norm?
II. Die klassischen Auslegungsmethoden
1. Sprachlich-grammatikalische Auslegung
Zwar darf bei der Auslegung einer Norm nicht am bloßen Wortlaut festgehalten werden,
aber der Wortlaut ist immer der Ausgangspunkt der Auslegung.
Manchmal regelt das Gesetz selbst, wie eine bestimmte Norm oder eines ihrer Tatbestandsmerkmale auszulegen ist.
Das nennt man Legaldefinition.
Eine solche gesetzliche Festlegung ist bindend.
Legaldefinitionen erkennt man häufig daran, dass der definierte Begriff hinter der Definition in Klammern steht.
Beispiel:
Lesen Sie: § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB
Hier ist festgelegt, dass das Tatbestandsmerkmal „unverzüglich“ bedeutet: „ohne schuldhaftes Zögern“.
Diese Legaldefinition gilt im gesamten Privatrecht, nicht nur in dieser Norm.
Steht also etwa in einem anderen Gesetz, wie § 377 Abs. 1 HGB, das Wort „unverzüglich“, kann bei der Auslegung auf die Definition in § 121 BGB verwiesen werden.
Fehlt eine gesetzliche Definition, gilt der juristische Sprachgebrauch,
im Übrigen der allgemeine Sprachgebrauch.
Beispiel:
Spricht das Gesetz von einer Hypothek, so ist damit die Hypothek im Sinne der §§ 1113 ff. BGB gemeint –
auch wenn im allgemeinen Sprachgebrauch häufig nicht zwischen Hypothek und Grundschuld unterschieden wird.
Ein durch Auslegung eindeutig festgestellter Wortsinn ist grundsätzlich bindend,
denn der Wortlaut ist die Grenze jeder Auslegung.
Lesen Sie noch einmal: § 985 BGB
Anspruchsgegner ist dem eindeutigen Wortlaut nach nur der Besitzer einer Sache,
also derjenige, der aufgrund eines Herrschaftswillens die tatsächliche Sachherrschaft ausübt.
Der Anspruch kann sich also nicht gegen einen Besitzdiener richten,
der die Sache zwar in der Hand hält, aber keine eigene Sachherrschaft hat
(z. B. eine Hausangestellte in Bezug auf die Sachen in der Wohnung ihres Arbeitgebers).
Etwas anderes gilt nur in Ausnahmefällen, in denen der Sinn und Zweck des Gesetzes eine andere Auslegung zwingend verlangen.
Merke:
Der Wortlaut ist Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung –
aber man darf nicht am buchstäblichen Ausdruck haften bleiben.
Erster Arbeitsschritt der Auslegung:
Lesen Sie die auszulegende Vorschrift genau durch!
2. Systematische Auslegung
Kommt die sprachlich-grammatikalische Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis,
so ist nach dem Bedeutungszusammenhang der Norm zu fragen.
a) Allgemeines
Ein Rechtssatz ist immer im Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung zu verstehen.
Daher betrachtet man bei der systematischen Auslegung nicht nur die Norm selbst,
sondern auch andere, mit ihr zusammenhängende Vorschriften.
Lesen Sie: § 823 Abs. 1 BGB
Was unter dem Tatbestandsmerkmal „sonstiges Recht“ zu verstehen ist,
ergibt sich erst aus dem Vergleich mit den anderen ausdrücklich genannten Rechten.
Während der Wortlaut ein weites Verständnis zuließe, zeigt der systematische Vergleich mit
Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum, dass auch „sonstige Rechte“ einen
vergleichbaren Ausschließlichkeitscharakter haben müssen.
Es muss sich also um ein absolutes Recht handeln, das von jedermann zu beachten ist.
Bloße Forderungen oder das Vermögen als solches sind daher nicht geschützt.
Ein durch systematische Auslegung eindeutig festgestelltes Ergebnis ist grundsätzlich bindend,
sofern sich nicht aus Sinn und Zweck des Gesetzes etwas anderes ergibt.
b) Verfassungskonforme Auslegung
Ein besonderer Fall der systematischen Auslegung ist die verfassungskonforme Auslegung.
Auch wenn sie vor allem im öffentlichen Recht relevant ist, gilt sie grundsätzlich auch im Zivilrecht.
Jede Norm ist, wenn mehrere Deutungen möglich sind, so auszulegen,
dass sie mit der Verfassung im Einklang steht.
Beispiel:
Im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB ist auch das in Art. 1 i. V. m. Art. 2 GG verankerte
allgemeine Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht“ geschützt.
c) Richtlinienkonforme Auslegung
Ein weiterer besonderer Fall ist die richtlinienkonforme Auslegung.
Wurde eine Norm zur Umsetzung einer EG-Richtlinie geschaffen,
muss geprüft werden, ob sie den europarechtlichen Vorgaben entspricht.
Fehlt eine Umsetzung, ist das geltende Recht ab Ablauf der Umsetzungsfrist so auszulegen,
dass die volle Wirksamkeit der Richtlinie gewährleistet ist.
Lesen Sie: § 439 Abs. 1 BGB
Diese Vorschrift wurde zur Umsetzung der Verbrauchsgüterrichtlinie (1999/44/EG) eingefügt.
Wenn der Käufer nach § 439 Abs. 1 BGB die Lieferung einer mangelfreien Sache verlangen kann,
stellt sich bei eingebauten Sachen (z. B. Fliesen, Teppichboden, Dachziegel) die Frage,
ob auch die Kosten für den Ein- und Ausbau umfasst sind.
Nach Entscheidungen des EuGH und zur Rechtssicherheit wurde dem Verbraucher
durch den deutschen Gesetzgeber zum 1. 1. 2018 ein Anspruch auf diese Kosten in § 439 Abs. 3 BGB eingeräumt.
Lesen Sie: § 474 Abs. 1 Satz 1 BGB
Ein Verbrauchsgüterkauf liegt vor, wenn der Verkäufer Unternehmer und der Käufer Verbraucher ist (B2C).
Daraus folgt bei richtlinienkonformer Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB:
Beim Verbrauchsgüterkauf kann der Käufer auch die Ein- und Ausbaukosten verlangen.
Sind beide Parteien Verbraucher (C2C) oder Unternehmer (B2B),
besteht nur ein Anspruch auf Lieferung einer mangelfreien Sache –
nicht auf Erstattung der Kosten.
Manchmal regelt der nationale Gesetzgeber mehr als die Richtlinie vorgibt.
Das nennt man eine überschießende Umsetzung.
In solchen Fällen besteht keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung.
d) Zusammenfassung
Merke:
Die systematische Auslegung betrachtet eine Norm im Gesamtgefüge der Rechtsordnung.
Zweiter Arbeitsschritt der Auslegung:
Lesen Sie auch die Vorschriften, die vor oder hinter der betreffenden Norm stehen –
und behalten Sie Grundgesetz und Europarecht im Blick!
3. Teleologische Auslegung
Für das Auslegungsergebnis ist entscheidend die teleologische Auslegung,
die sich am Sinn und Zweck (ratio legis) einer Vorschrift orientiert.
Sie hat gegenüber den anderen Methoden grundsätzlich Vorrang.
Mit ihr wird der Zweck der Norm erforscht.
Dabei sind auch Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen,
sowie Rechtssicherheit und Vertrauensschutz zu berücksichtigen.
Lesen Sie: § 826 BGB
Um festzustellen, wann eine Schädigung im Sinne dieser Vorschrift sittenwidrig ist,
muss auf Sinn und Zweck abgestellt werden.
§ 826 BGB ist die deliktische Generalklausel, ein Auffangtatbestand,
der nur eingreift, wenn andere Vorschriften (z. B. § 823 BGB) keine Anwendung finden.
Er ist der „letzte Rettungsanker“ des Deliktsrechts und daher mit Zurückhaltung anzuwenden.
Ein bloßer Vertrags- oder Vertrauensbruch genügt nicht;
erforderlich ist ein besonders verwerfliches Verhalten.
Merke:
Die teleologische Auslegung ist grundsätzlich entscheidend.
Dritter Arbeitsschritt der Auslegung:
Fragen Sie sich, welchen Zweck die Vorschrift erfüllen soll!
4. Historische Auslegung
Die historische Auslegung betrachtet die Entstehungsgeschichte einer Norm. Anhand historischer Materialien ist zu klären, wie das Auslegungsproblem vor Erlass der Norm gelöst wurde. Zudem werden Regelungsabsicht, Zweck und Normvorstellung des historischen Gesetzgebers untersucht. Hierfür sind die historischen Gesetzesmaterialien heranzuziehen.
Beispiel: Materialien zum BGB von 1900 sind die „Motive“ und „Protokolle“, veröffentlicht bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1899 (Nachdruck 1979). Materialien zu neueren Gesetzen finden sich in Bundestags- oder Bundesratsdrucksachen, u. a. online.
Der historischen Auslegung kommt nur geringe Bedeutung zu. Praktisch wurden Auslegungsprobleme im Gesetzgebungsverfahren teils gar nicht gesehen, sodass die Auswertung oft wenig ergiebig ist. Rechtlich kann die historische Auslegung ein bereits gefundenes Ergebnis nur stützen, nicht aber eines begründen, das den anderen Auslegungsmethoden widerspricht.
Lesen Sie: § 325 BGB
Dem unbefangenen Leser stellt sich zunächst die Frage, ob das dort Geregelte nicht selbstverständlich ist: Wer vom Vertrag zurücktritt (z. B. wegen Nichtleistung trotz mehrfacher Aufforderung), soll zugleich Ersatz des entstandenen Schadens verlangen können. Der Sinn und Zweck des § 325 BGB erschließt sich jedoch erst aus seiner Entwicklung: Die Norm wurde mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz eingefügt. Zuvor galt nach § 326 Abs. 1 BGB a. F. das Gegenteil (sog. Rücktrittsfalle): Nach Rücktritt war kein Schadensersatz mehr möglich. Mit der Reform entfiel die alte Regelung; § 325 BGB stellt klar, dass nun etwas anderes gilt.
Merke: Die historische Auslegung kann nur ein bereits gefundenes Auslegungsergebnis stützen.
Vierter Arbeitsschritt der Auslegung:
Recherchieren Sie die geschichtliche Entwicklung der Vorschrift.
III. Besondere Auslegungsformen
Neben den klassischen Methoden gibt es typische juristische Argumentationsformen, die zur Bestimmung der ratio legis herangezogen werden.
1. Extensive und restriktive Auslegung
Die extensive Auslegung fasst den Tatbestand möglichst weit, die restriktive möglichst eng.
Lesen Sie: § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB
Wie viele Personen bilden eine Bande? Extensiv könnte man sagen: stets mehr als eine. Restriktiv – dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend – mindestens drei. Der Große Senat für Strafsachen des BGH hat sich für die restriktive Auslegung entschieden.
2. Umkehrschluss
Der Umkehrschluss (argumentum e contrario) besagt: Ein Sachverhalt fällt nicht unter den Tatbestand, weil das Gesetz andere, ähnliche Fälle ausdrücklich geregelt hat.
Lesen Sie: § 119 BGB
Die Vorschrift nennt drei Irrtumsarten (Inhalts-, Erklärungs-, Eigenschaftsirrtum). Im Gegenschluss berechtigen andere Irrtümer – insbesondere der Motivirrtum – nicht zur Anfechtung.
Beispiel: Kauft ein Vater Eheringe im Vertrauen auf die bevorstehende Hochzeit, kann er bei Ausfall der Hochzeit den Vertrag nicht anfechten.
Merke: Regelt das Gesetz bestimmte Fälle ausdrücklich, ist ein ähnlich gelagerter, nicht genannter Fall im Umkehrschluss nicht erfasst.
3. Erst-Recht-Schluss
Der Erst-Recht-Schluss (argumentum a maiore ad minus) schließt vom Größeren aufs Kleinere, vom Allgemeinen aufs Spezielle. Knüpft das Gesetz an einen Tatbestand eine Rechtsfolge, gilt diese erst recht für einen ähnlichen Tatbestand, auf den der Zweck noch stärker zutrifft.
Lesen Sie: § 2255 BGB
Wenn schon das gesamte Testament durch Vernichtung oder Veränderung widerrufen werden kann, dann erst recht Teile davon.
Merke: Regelt die Norm nur das Ganze/Allgemeine, gilt sie erst recht für Teile/Konkreteres.
4. Effet utile
Mit der Europäisierung des Rechts gewinnt der Grundsatz des effet utile an Bedeutung: Normen sind im Zweifel so auszulegen, dass die zugrunde liegende EG-Richtlinie volle Wirkung entfaltet.
Lesen Sie überblicksartig: § 48 VwVfG
Wird aufgrund einer EG-Richtlinie per Verwaltungsakt eine Geldzahlung zugesprochen, kann der effet utile die Rücknahme eines wegen Richtlinienverstoßes rechtswidrigen Verwaltungsakts auch dann rechtfertigen, wenn § 48 VwVfG dies ansonsten ausschließt.
Merke: Aufgrund einer EG-Richtlinie erlassene Normen sind im Zweifel so anzuwenden, dass die Richtlinie volle Wirkung entfaltet.
IV. Überschreiten der Grenzen der Auslegung
Der Wortlaut bildet grundsätzlich die Grenze jeder Auslegung. In Ausnahmefällen kann der Gesetzeszweck es gebieten, diese Grenze zu überschreiten.
1. Analogie
Analogie liegt vor, wenn eine Norm auf einen nicht erfassten Fall angewendet wird. Voraussetzungen:
-
planwidrige Regelungslücke und
-
vergleichbare Interessenlage.
Man unterscheidet Gesetzes- und Rechtsanalogie.
Bei der Gesetzesanalogie wird eine konkrete Norm über ihren Wortlaut hinaus angewendet.
Lesen Sie: § 31 BGB
Die Vorschrift (eigentlich zur Vereinshaftung) wird analog auf alle juristischen Personen (GmbH, AG, Genossenschaft etc.) und rechtsfähige Personengesellschaften (OHG, KG) angewendet. Leitgedanke: Juristische Personen müssen sich das Handeln ihrer Organe zurechnen lassen.
Bei der Rechtsanalogie wird aus mehreren Rechtssätzen ein übergeordnetes Prinzip gewonnen.
Lesen Sie: § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB
Diese Norm (Schuldrechtsmodernisierung) kodifiziert, was zuvor als Rechtsanalogie im gesamten Schuldrecht galt: culpa in contrahendo (c.i.c.). Vertragsbezogene Schutzpflichten entstehen bereits bei Aufnahme von Vertragsverhandlungen (z. B. Haftung des Supermarktinhabers beim Ausrutschen eines Kunden, auch ohne Vertragsschluss).
Merke: Bei der Analogie wird eine Norm über ihren Wortlaut hinaus angewendet.
2. Teleologische Reduktion
Bei der teleologischen Reduktion wird eine Norm entgegen ihrem Wortlaut auf einen Sachverhalt nicht angewendet, wenn der Gesetzeszweck dies verbietet.
Lesen Sie: § 181 BGB
Zweck ist der Schutz des Vertretenen vor Insichgeschäften seines Vertreters (Vermeidung von Interessenkonflikten). Die Norm findet daher keine Anwendung, wenn kein Konflikt droht – z. B. bei Zustimmung des Vertretenen oder wenn das Geschäft für ihn lediglich rechtlich vorteilhaft ist (§ 107 BGB).
Merke: Bei der teleologischen Reduktion bleibt die Norm trotz entgegenstehenden Wortlauts unanwendbar.
V. Beispiel zur Auslegung
Zum Abschluss sollen die verschiedenen Auslegungsmethoden an einem schwierigen Auslegungsproblem dargestellt werden.
Lesen Sie zum Verständnis des Falles die jeweils angegebenen Vorschriften.
1. Der Fall
Eigentümer E verkauft dem Dritten D unter Eigentumsvorbehalt (§ 449 BGB) einen PKW mit der Maßgabe, diesen bei Reparaturbedürftigkeit auf eigene Kosten in einer Werkstatt reparieren zu lassen.
Der PKW erleidet einen Lackschaden. D bringt ihn daher in die Werkstatt des Werkunternehmers W. Es entstehen Kosten in Höhe von 1.000 €. Währenddessen wird D insolvent und kann die Kaufpreisraten an E nicht weiterzahlen, sodass dieser vom Kaufvertrag zurücktritt.
E verlangt von W die Herausgabe des PKW gemäß § 985 BGB.
2. Vorüberlegungen
E könnte gegen W gemäß § 985 BGB einen Anspruch auf Herausgabe des PKW haben.
E ist Eigentümer des PKW, W dessen Besitzer, sodass die Voraussetzungen des § 985 BGB grundsätzlich erfüllt sind.
W könnte jedoch einwenden, nach § 986 BGB ein Recht zum Besitz zu haben. Dieses könnte sich aus einem Werkunternehmerpfandrecht gemäß § 647 BGB ergeben, das ein Recht zum Besitz darstellt.
Fraglich ist daher, ob W durch den Werkvertrag mit D nach § 631 BGB über die Reparatur des PKW ein Werkunternehmerpfandrecht an dem PKW erlangt hat. Dies hängt von der Auslegung mehrerer Normen im Zusammenhang mit dem Werkunternehmerpfandrecht ab.
3. Die Auslegung
Zunächst ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 647 BGB für das Entstehen eines Werkunternehmerpfandrechts vorliegen.
Nach dem Wortlaut der Norm muss es sich um eine Sache „des Bestellers“ handeln. Der Wortlaut setzt also das Eigentum des Bestellers voraus.
Besteller der Reparatur war D, nicht aber der Eigentümer E.
Damit ist nach § 647 BGB kein Werkunternehmerpfandrecht entstanden.
Fraglich ist jedoch, ob W das Werkunternehmerpfandrecht des § 647 BGB gutgläubig vom Nichteigentümer D erwerben konnte. Den Fall, dass ein Nichteigentümer Besteller ist, regelt die Norm nicht.
Grundsätzlich ist nach den Pfandrechtsvorschriften des BGB gemäß § 1207 BGB ein gutgläubiger Erwerb nach den §§ 932 ff. BGB möglich.
Bei § 647 BGB handelt es sich jedoch um ein gesetzliches Pfandrecht.
Daher ist zu klären, ob § 1207 BGB auch für gesetzliche Pfandrechte Anwendung findet.
Der Wortlaut der Norm unterscheidet nicht zwischen gesetzlichen und vertraglichen Pfandrechten und ist insoweit unergiebig.
Systematisch befindet sich § 1207 BGB aber im Abschnitt über das rechtsgeschäftliche Pfandrecht (§§ 1204 ff. BGB).
Daraus ergibt sich, dass § 1207 BGB grundsätzlich nur für vertragliche Pfandrechte gilt.
Etwas anderes könnte sich aus § 1257 BGB ergeben, wonach die Vorschriften über das durch Rechtsgeschäft bestellte Pfandrecht auf ein kraft Gesetzes entstandenes Pfandrecht entsprechende Anwendung finden.
Fraglich ist daher, ob § 1257 BGB dahingehend auszulegen ist, dass sich der Verweis auch auf § 1207 BGB erstreckt.
Der Wortlaut von § 1257 BGB („entstandenes Pfandrecht“) ist jedoch eindeutig dahin zu verstehen, dass diese Vorschrift gerade nicht auf Regelungen verweist, die das Entstehen eines Pfandrechts betreffen – da die Entstehung eines Pfandrechts bereits vorausgesetzt wird.
Wegen dieses eindeutigen Wortlauts scheidet eine Anwendung von § 1257 BGB auf § 1207 BGB aus.
In Betracht kommt daher nur eine analoge Anwendung des § 1207 BGB.
Dafür bedarf es:
-
einer planwidrigen Regelungslücke und
-
einer vergleichbaren Interessenlage.
Der gutgläubige Erwerb gesetzlicher Pfandrechte ist – wie gezeigt – im BGB nicht geregelt, eine Regelungslücke besteht also.
Fraglich ist jedoch, ob diese Lücke planwidrig oder vom Gesetzgeber bewusst gewollt ist.
Die Planwidrigkeit könnte sich systematisch aus § 366 Abs. 3 HGB ergeben, der speziell die Anwendung von Gutglaubensvorschriften auf gesetzliche Pfandrechte regelt.
Dieser systematische Verweis überzeugt jedoch nicht.
Von einer Sonderregelung des Handelsrechts kann nicht auf das allgemeine Zivilrecht geschlossen werden.
Es handelt sich hier gerade nicht um einen Erst-Recht-Schluss, da nicht vom Allgemeinen auf das Spezielle, sondern umgekehrt geschlossen würde.
Zudem ist historisch zu beachten, dass § 366 Abs. 3 HGB dem früheren § 306 Abs. 3 AHGB von 1862 entspricht – zu einem Zeitpunkt, als die Arbeiten am BGB (1900) noch nicht einmal begonnen hatten.
Daraus folgt im Umkehrschluss, dass eine solche Sonderregelung außerhalb des HGB gerade nicht gelten sollte.
Folglich war ein gutgläubiger Erwerb eines gesetzlichen Pfandrechts im BGB nicht vom Gesetzgeber gewollt.
Eine Analogie zu § 1207 BGB scheidet daher aus.
Auslegungsergebnis:
W konnte das Werkunternehmerpfandrecht gemäß § 647 BGB nicht durch den Werkvertrag mit D erwerben.
Zur abschließenden Klärung, ob E tatsächlich die Herausgabe des PKW verlangen kann, wären weitere Aspekte zu prüfen. Diese gehen jedoch über das hier verfolgte Ziel hinaus – nämlich zu zeigen, wie anhand eines konkreten Falls eine Gesetzesauslegung vorzunehmen ist.
B. Kurz oder weit – von der Feststellung zum Meinungsstreit
Katharina Gräfin von Schlieffen
Ein juristisches Gutachten klärt eine Rechtsfrage in einer Abfolge von Fragen und Antworten.
Der Weg von der Frage im Obersatz bis zur Antwort im Ergebnis kann – je nach Gewicht des Prüfgegenstands – kurz oder lang sein. Daraus ergibt sich für jede Falllösung ein eigener Rhythmus.
Idealtypisch erfolgt die Prüfung in fünf Schritten:
-
Frage im Obersatz
-
Benennung der Voraussetzung, unter der die Frage bejaht werden kann
-
Definition der Voraussetzung
-
Subsumtion des Sachverhalts unter die Voraussetzung
-
Feststellung des Ergebnisses
Beispiel – Prüfung der Annahme eines Angebots auf Abschluss eines Kaufvertrags
Obersatz:
K müsste das Angebot des V durch eine eigene Willenserklärung angenommen haben.
Voraussetzung:
Das setzt voraus, dass K eine Annahmeerklärung abgegeben hat.
Definition:
Eine Annahme liegt vor, wenn sich der Erklärende mit einem Vertragsschluss zu den im Angebot genannten Bedingungen einverstanden erklärt.
Subsumtion:
In seinem Antwortschreiben hat sich K ohne Einschränkungen und Vorbehalte damit einverstanden erklärt, einen Kaufvertrag zu den im Angebot des V genannten Konditionen zu schließen.
Ergebnis:
Damit hat K das Angebot des V angenommen.
Wie jedes Ideal wird auch dieses Prüfmodell in der Praxis selten vollständig eingehalten. Häufig wird es verkürzt, oft aber auch erweitert.
I. Kürzen
Aus denkökonomischen und rhetorischen Gründen wird in vielen Teilen eines Gutachtens vom vollständigen Fünfschrittschema abgewichen. Der Stil des deutschen Juristen ist im Allgemeinen knapp. Was er für überflüssig hält, lässt er weg. Diese Haltung führt zu einer Dichte, die für Laien oft schwer verständlich ist.
Im besten Fall strahlt ein solcher Text Kompetenz aus – im schlechtesten weiß der Verfasser selbst nicht mehr, was er gesagt und was er weggelassen hat.
Deshalb gilt für Anfänger: Lieber etwas mehr schreiben als zu wenig.
Der Leser muss zu jedem Zeitpunkt erkennen,
-
was geprüft wird,
-
welche Voraussetzung gerade untersucht wird,
-
warum etwas erörtert wird,
-
und zu welchem Ergebnis man gelangt ist.
Den richtigen, eleganten Stil erreicht man erst, wenn man bewusst und gezielt abkürzt. Wann das passt, lässt sich nicht pauschal sagen. Man kann jedoch die Grundformen des Kürzens (Ellipse) und des Anreicherns (Amplifikation) bewusst lernen.
1. Einer für Alle – die „Insbesondere-Prüfung“
Die sogenannte Teil- oder Insbesondere-Prüfung ist eine effektive Kürzungsstrategie, die auch bei Einhaltung des Fünfschrittmodells angewendet werden kann.
Beispiel – Prüfung einer Brandstiftung, § 306 Abs. 1 Nr. 2 StGB
Obersatz:
A könnte sich nach § 306 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er die Geschäftsräume des G in Brand gesetzt hat.
Voraussetzung:
Voraussetzung hierfür ist insbesondere ein taugliches, in § 306 Abs. 1 StGB genanntes Tatobjekt. In Betracht kommt die in Nr. 2 genannte „Betriebsstätte“.
Definition:
Als Betriebsstätten sind ortsfeste Einrichtungen anzusehen, die der Ausübung eines auf Dauer angelegten Unternehmens dienen.
Subsumtion:
G betreibt in seinen Geschäftsräumen eine internationale Immobilienagentur. Die Räumlichkeiten dienen also der unternehmerischen Tätigkeit seiner Firma. Damit hat A eine fremde Betriebsstätte im Sinne des § 306 Abs. 1 Nr. 2 StGB in Brand gesetzt.
Ergebnis:
Da alle übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, hat sich A wegen Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht.
Merke:
Statt alle gesetzlichen Voraussetzungen einzeln zu prüfen, wird hier nur „insbesondere“ ein Merkmal – das Tatobjekt der Betriebsstätte – herausgegriffen. Dieses steht stellvertretend für die übrigen Voraussetzungen (pars pro toto).
Das Herausgreifen einer oder weniger Voraussetzungen ist nur erlaubt,
-
wenn es sich um eine nebensächliche Prüfung handelt,
-
alle weiteren Merkmale offensichtlich unproblematisch sind und
-
das ausgewählte Merkmal die entscheidende Bedingung („Flaschenhals“) der Prüfung bildet.
Anfänger sollten diese Methode nur mit Vorsicht einsetzen und lieber das Grundmodell üben – also zugunsten von Klarheit und Vollständigkeit auf stilistische Eleganz verzichten.
Wer sie anwendet, sollte den Zusatz „alle übrigen Voraussetzungen sind erfüllt“ verwenden und prüfen, ob das tatsächlich zutrifft.
2. Voraussetzungen verschweigen
Bei jeder Prüfung müssen nach dem Obersatz die Voraussetzungen genannt werden, unter denen ein Anspruch oder eine Strafbarkeit bejaht werden kann.
Im weiteren Verlauf eines Gutachtens wird dieser Schritt jedoch häufig übersprungen.
In vielen Schemata taucht die Voraussetzung gar nicht als eigener Punkt auf, sondern wird stillschweigend dem Obersatz zugeschlagen – wodurch ihr Fehlen kaum auffällt.
a) Die Voraussetzung steckt im Obersatz
Ein solcher Fall liegt vor, wenn die Voraussetzung bereits in der Formulierung des Obersatzes enthalten ist.
Beispiel – Prüfung einer Brandstiftung, § 306 Abs. 1 Nr. 4 StGB
Obersatz:
A könnte sich durch das Verheizen des Modellflugzeugs von F wegen einer Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 Nr. 4 StGB (Inbrandsetzen eines Luftfahrzeugs) strafbar gemacht haben.
Definition:
Luftfahrzeuge sind alle zum Personentransport im Luftraum vorgesehenen Verkehrsmittel und Gerätschaften.
Subsumtion:
Das Modellflugzeug des F ist weder ein Verkehrsmittel noch eine zum Personentransport geeignete Gerätschaft.
Ergebnis:
Damit hat sich A nicht wegen Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 Nr. 4 StGB strafbar gemacht.
b) Die Voraussetzung steckt in der Definition
Hier wird die Voraussetzung nicht ausgelassen, sondern in Form einer Definition formuliert. Dadurch tritt das Konditionalgefüge „Wenn Voraussetzung, dann Rechtsfolge“ in den Hintergrund – die Prüfung wirkt objektiver.
Beispiel – Zugang eines Angebots auf Abschluss eines Kaufvertrags
Obersatz:
Um wirksam zu werden, müsste das Angebot des A dem Erklärungsempfänger E zugehen, § 130 Abs. 1 BGB.
Definition:
Zugang bedeutet, dass die Erklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt sein muss, sodass dieser bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge Kenntnis nehmen kann.
Subsumtion:
Das Angebotsschreiben des A wurde E in seinen häuslichen Briefkasten eingeworfen.
Ergebnis:
Damit ist die Erklärung des A dem E wirksam zugegangen.
Die gedankte Voraussetzung („Eintreffen der Erklärung im Machtbereich des Empfängers“) steckt hier in der Definition selbst.
Alternative Darstellung:
Obersatz:
Um wirksam zu werden, müsste das Angebot des A dem Erklärungsempfänger E zugehen, § 130 Abs. 1 BGB.
Voraussetzung:
Zugang setzt voraus, dass die Erklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt, sodass dieser bei gewöhnlichen Verhältnissen Kenntnis nehmen kann.
Subsumtion:
Das Angebotsschreiben des A wurde E in seinen Briefkasten eingeworfen.
Ergebnis:
E ist das Angebot wirksam zugegangen.
Beispiel – Annahme eines Angebots
Obersatz:
E müsste das Angebot des A auch angenommen haben.
Definition:
Die Annahme (§ 146 BGB) ist eine grundsätzlich empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die der Angebotsempfänger sein uneingeschränktes Einverständnis mit dem Vertragsschluss erklärt.
Subsumtion:
E erklärte per Bestätigungs-E-Mail ohne Einschränkung, dass er die Goldmünze „Krügerrand“ für 800 EUR veräußern will. Damit war er mit dem Angebot des K einverstanden. Die Erklärung ging K auch zu.
Ergebnis:
Somit liegt eine wirksame Annahme vor.
Alternative Form:
Obersatz:
E müsste das Angebot des A auch angenommen haben, § 146 BGB.
Voraussetzung:
Dies setzt eine empfangsbedürftige Willenserklärung voraus, durch die der Angebotsempfänger sein uneingeschränktes Einverständnis mit dem Vertragsschluss erklärt.
Subsumtion:
E bestätigte das Angebot ohne Einschränkung per E-Mail.
Ergebnis:
Damit liegt eine Annahme vor.
Die Konstruktion „Obersatz – Definition“ ist weniger durchsichtig als „Obersatz – Voraussetzung“.
Sie nennt statt der fallbezogenen Bedingung den abstrakten Rechtssatz, auf dem diese beruht.
Vorteile:
-
Die Prüfung wirkt sachlicher und fachlicher.
-
Man betritt unmittelbar die Ebene der Dogmatik und kann dort weiter argumentieren.
Auch wenn im Gutachten Voraussetzungen, Tatbestandsmerkmale oder Kriterien nicht ausdrücklich genannt sind, müssen sie immer mitgedacht werden – sonst verliert man den roten Faden.
3. Die knappe Feststellung
Schließlich gibt es die extreme Form der Verkürzung, die nur dann angemessen ist, wenn der Fall völlig unzweifelhaft ist und andere, wichtigere Probleme zu prüfen bleiben.
Kurzform
Prüfung: Brandstiftung, § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB
Obersatz
A könnte sich durch das Anzünden von H´s Wohnhaus wegen Brandstiftung durch In-Brand-Setzen eines Gebäudes nach § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben.
Subsumtion
Da A mit seiner Brandlegung ein fremdes Gebäude in Brand gesetzt hat,
Ergebnis
hat er sich wegen einer Brandstiftung nach § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht.
Beachten Sie, dass hier Feststellungen und strikte Begründungen („Urteilsstil“) verwendet werden dürfen.
Eine derart gedrängte Behandlung von Vorschriften findet man häufig gegen Ende eines Gutachtenabschnitts, wo fernerliegende Ansprüche bzw. Normen abgehakt werden müssen.
Stark gekürzt
Prüfung einer Üblen Nachrede, § 186 StGB
Ergebnis / Subsumtion / Voraussetzung
Eine Strafbarkeit wegen Übler Nachrede, § 186 StGB, scheidet schon mangels Äußerung einer Tatsache aus.
Noch kürzer
Prüfung von Übler Nachrede (§ 186 StGB) und Verleumdung (§ 187 StGB)
Ergebnis
Wegen des spezialgesetzlichen Verhältnisses zu dem hier bereits nicht einschlägigen § 185 StGB (Beleidigung) kommt weder eine Strafbarkeit wegen Übler Nachrede (§ 186 StGB) noch wegen Verleumdung (§ 187 StGB) in Betracht.
II. Hinzufügen
Wie die Anfängerarbeit basiert auch die Modulabschlussklausur oder das Gutachten für Fortgeschrittene auf der fünfschrittigen Grundform; allerdings wird das Basismodell bei diesen Ausführungen durch viele und verschiedene Elemente angereichert.
1. Wiederholung von Elementen des Prüfschemas
Die einfachste Art, die Komplexität des Grundmodells zu steigern, ist struktureller Art und besteht in der Wiederholung von Prüfelementen.
a) Mehrere Voraussetzungen
Viele Obersätze hängen nur von einer Voraussetzung ab. Diese Zahl lässt sich jedoch steigern.
Beispiel – Zwei Voraussetzungen prüfen
Prüfung der Wirksamkeit eines Angebots auf Abschluss eines Kaufvertrags
Obersatz
Das Angebot des V müsste wirksam geworden sein.
Voraussetzung
Dies setzt die Abgabe des Angebots durch V und seinen Zugang bei K gem. § 130 Abs. 1 BGB voraus.
Definition I
Unter der Abgabe ist die willentliche Entäußerung einer Willenserklärung in Richtung auf den Empfänger zu verstehen.
Subsumtion
V hat den Brief an K willentlich in dessen Richtung auf den Weg gebracht.
Zwischenergebnis
und somit sein Angebot abgegeben.
Definition II
Zugang bedeutet, dass die Erklärung derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass unter gewöhnlichen Umständen mit einer Kenntnisnahme durch den Empfänger gerechnet werden darf.
Subsumtion
K wurde der Brief des V in seinen Briefkasten geworfen.
Zwischenergebnis
weshalb ihm die Erklärung wirksam zugegangen ist.
Ergebnis
Damit liegt ein wirksames Angebot vor, § 130 BGB.
Je mehr Voraussetzungen Sie prüfen müssen, desto höher wird Ihr Gliederungsvermögen beansprucht.
Voraussetzungen können kumulativ vorliegen (1 und 2 und 3 müssen erfüllt sein) oder alternativ (1 oder 2 reicht aus).
Voraussetzungen können wiederum von weiteren Voraussetzungen abhängen, sodass sich vertikale Prüfungsebenen bilden. Neben der horizontalen Prüfebene (Obersatz, Voraussetzung, Definition, Subsumtion, Ergebnis) tritt eine vertikale (Voraussetzung, Voraussetzung’, Voraussetzung’’).
Jede Organisation dieses Systems lebt von der genauen Ordnung der logischen Ebenen.
Unverzichtbar sind hierbei die in der Jurisprudenz üblichen alphanumerischen Gliederungspunkte, die wegen ihrer Anschaulichkeit der dezimalen Gliederung vorzuziehen sind.
Beispiel – geschachtelte Gliederung (Voraussetzungen hervorgehoben)
Obersatz: Anspruch V gegen B auf Zahlung des Kaufpreises aus § 433 Abs. 2 BGB?
Voraussetzung: Wirksamer Kaufvertrag
I. Einigung, §§ 145 ff. BGB
-
Angebot
a) Angebot seitens des V?
b) Angebot seitens des B?
aa) Äußerer Erklärungstatbestand („objektiver Tatbestand“)
bb) Innerer Erklärungstatbestand („subjektiver Tatbestand“)
(1) Handlungswille
(2) Erklärungsbewusstsein
Folgen des Fehlens des Erklärungsbewusstseins:
(a) Willenstheorie
(b) Erklärungstheorie, h. M.
(c) Entscheidung für die Erklärungstheorie
cc) Geschäftswille
c) Zwischenergebnis: Angebot (+) -
Annahme
II. Ergebnis: Einigung (+)
Anspruch des V gegen B (+)
b) Weitere Elemente wiederholen
Nicht nur Voraussetzungen können vielfach auftreten und müssen koordiniert werden, sondern auch alle anderen Schritte des Grundmodells.
Wenn eine Voraussetzung nicht einfach bejaht, sondern selbst wieder von einer weiteren Voraussetzung abhängt, ist sie zugleich der Obersatz der folgenden Bedingung.
Beispiel:
Obersatz: V könnte einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung gegen K in Höhe von 100 EUR aus § 433 Abs. 2 BGB haben.
↑ Voraussetzung / Obersatz ↓
Das setzt voraus, dass zwischen beiden ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen ist.
↑ Voraussetzung / Obersatz ↓
Dafür müssten V und K zwei übereinstimmende Willenserklärungen – Angebot und Annahme – abgegeben haben, §§ 145 ff. BGB.
Im Übrigen gilt wie immer: Übersichtlich gliedern.
Übersichtlich heißt nicht „logisch“ im streng wissenschaftlichen Sinn, sondern „fachlich bewährt“, also juristisch.
Traditionell folgt auf einen Unterpunkt 1. stets ein 2. („wer A sagt, muss auch B sagen“), selbst wenn nichts weiter zu sagen ist.
Zwischenergebnisse können auf derselben logischen Ebene wie der zugehörige Obersatz oder eine Ebene tiefer stehen – als Abschluss der jeweiligen Voraussetzung.
2. Probleme mit Tatsachen
Gutachten werden umfangreich, weil sie Probleme behandeln.
Diese Probleme entspringen entweder Rechtsfragen oder Tatsachen, über die der Sachverhalt informiert.
Da Studiengutachten in der Regel keine ungeklärten Tatfragen enthalten sollen, fehlt Studierenden oft die Übung im gutachtlichen Umgang mit Fakten.
a) Wann und wo diskutiert man Tatsachen?
Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, an welcher Stelle des Gutachtens die Tatsachen überhaupt ins Spiel kommen. Hier sollte man sich noch einmal klar machen, dass jedes fallbezogene (Zwischen-)Ergebnis neben den rechtlichen Voraussetzungen auf tatsächlichen Voraussetzungen beruht.
Obersatz?
Rechtliche Voraussetzung
Tatsächliche Voraussetzung
→ Ergebnis
Rechtlich – Beispiele
Die Erklärung muss mit Handlungswillen abgegeben werden.
Bei dem Angriffsobjekt muss es sich um eine Sache handeln.
Tatsächlich (→ Subsumtion)
Sachverhalt: A hat bewusst seine Hand gehoben.
A hat dem Pudel des P das Fell geschoren.
Subsumtion / Zwischenergebnis
A hat demnach (vorliegend, konkret) eine Erklärung mit Handlungswillen abgegeben.
Als Angriffsobjekt kommt damit ein Tier in Betracht. Da Tiere gem. § 90a S. 3 BGB rechtlich den Sachen gleichzustellen sind, gilt das Angriffsobjekt des A, der Pudel des P, als Sache.
Zwischenergebnis: Der geschorene Pudel ist eine Sache.
= Konkretes Ergebnis
A hat somit Handlungswillen.
Daher ist A´s Angriffsgegenstand eine Sache.
In der verkürzenden Darstellung eines Gutachtens verbinden Lösungsskizzen häufig die Einführung der Tatsachen aus dem Sachverhalt, deren Subsumtion und das Zwischenergebnis zu einer einzigen Aussage.
Beispiel:
Indem A bewusst seine Hand gehoben hat, hat er eine Erklärung mit Handlungswillen abgegeben.
Diese Kurzform erschwert Ihnen den Blick auf die zugrunde liegende Struktur. Das Strukturwissen benötigen Sie aber für die Fälle, in denen die Tatsachen nicht so einfach liegen und Sie dem Prüfungspunkt Subsumtion Gewicht verleihen müssen.
Bei Anfängerklausuren begegnen Ihnen diese tatsächlichen, aus dem Sachverhalt herrührenden Probleme häufig gezielt: „Was hat A denn tatsächlich erklärt?“, „Was wurde zugesichert?“, „Was ist x für ein Objekt?“. Grundlage für den erfolgreichen Umgang mit diesen Fragen ist die sorgfältige Arbeit mit dem Sachverhalt, worüber wir bereits in Kurseinheit 1 B. ausführlich gesprochen haben.
In späteren Klausuren können Ihnen – in den nunmehr komplexeren Fall-Konstellationen – auch ungewollte Unschärfen begegnen, also Nuancen von Unklarheit, die der Klausurersteller vielleicht so nicht vorhergesehen hat oder vorhersehen konnte – Sie lösen ja keine Mathematikaufgabe. Es kann auch sein, dass Ihnen Ihr eigener Scharfsinn oder Ihr eigenwilliger Lösungsweg tatbestandliche Fragen beschert, die bisher nicht geklärt wurden. Haben Sie den Eindruck, dass der Erfinder der Klausur etwas übersehen hat, nutzen Sie die Gelegenheit zu einer klärenden Nachfrage. Im Übrigen benötigen Sie ein verlässliches Werkzeug, wie mit diesen Hindernissen umzugehen ist.
b) Passend gewichten
Der Umgang mit Tatsachen richtet sich wie die übrige gutachtliche Darstellung nach dem oben beschriebenen Grundsatz, dass Selbstverständliches knapp (A.) und Problematisches breit zu behandeln ist (B.).
Wenn Sie bei einer strafrechtlichen Prüfung des § 303 Abs. 1 StGB fragen, ob das Tatbestandsmerkmal „Sache“ vorliegt und im Sachverhalt deutet nichts auf eine Besonderheit hin, werden Sie nach dem Grundsatz der „Insbesondere-Prüfung“ die tatsächlichen Voraussetzungen des Merkmals nicht ausführlich, ja zumeist nicht einmal ausdrücklich thematisieren.
Obersatz:
A müsste eine Sache zerstört haben.
Voraussetzung / Definition:
Unter einer Sache ist jeder körperliche Gegenstand zu verstehen, § 90 BGB.
Subsumtion:
Das Mobiltelefon des B ist ein körperlicher Gegenstand.
Ergebnis:
Somit hat A eine Sache zerstört.
Nachdem Sie hier die abstrakten Rechtsvoraussetzungen mit der Definition genannt haben („körperlicher Gegenstand, § 90 BGB“), nehmen Sie die tatsächlichen Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals „Sache“ schlicht als gegeben an. Nach dem Grundsatz „Unproblematisches einfach feststellen“ erklärten Sie in einem einzigen Satz, dass die Rechtsvoraussetzungen im Konkret-Tatsächlichen eine Entsprechung haben („Das Mobiltelefon des B“).
Wirft der Sachverhalt allerdings an dieser Stelle eine Schwierigkeit auf, können Sie es nicht bei dieser Kurzform belassen. Je nach Gewicht des Problems stehen Ihnen unterschiedliche Formen der Ausdifferenzierung zur Verfügung.
c) Der Umgang mit der leichten Unschärfe
Beispiel:
Nach dem Sachverhalt hat der Täter mehrere Gegenstände vernichtet, darunter auch den von S „seit Jugendzeiten geliebten Grünen Heinrich“. Insgesamt ist klar, dass keine Person, sondern ein Buch – ein Werk des Dichters Gottfried Keller – gemeint ist.
Sie sichern sich ab, indem Sie zwar im Feststellungsmodus bleiben, aber innerhalb der Subsumtion eine Problematisierung andeuten.
Obersatz:
A müsste eine Sache zerstört haben.
Voraussetzung / Definition:
Unter einer Sache ist jeder körperliche Gegenstand zu verstehen (§ 90 BGB).
Subsumtion:
Der „Grüne Heinrich“, eines der Bücher des S, ist ein körperlicher Gegenstand.
Ergebnis:
Somit hat A eine Sache i. S. d. § 303 Abs. 1 StGB zerstört.
Anmerkung:
Wenn Sie im Sachverhalt keinen weiteren Hinweis finden, gehen Sie vom Regelfall aus, dass es sich um ein Buch und nicht z. B. um mehrere Bände handelt. Dies gilt auch, wenn Sie zufällig in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts bewandert sind und wissen, dass der „Grüne Heinrich“ zunächst in vier Bänden (sowie zwei gänzlich unterschiedlichen Fassungen) erschienen ist, so dass es nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass der offensichtlich bereits betagte S „seit seinen Jugendzeiten“ die vierbändige Ausgabe besitzen könnte. Damit wäre unklar, ob A die Gesamtausgabe oder nur einen oder mehrere einzelne Bände des Werks beschädigt hat, was Sie in ihrem Gutachten zu einer Klärung der denkbaren Varianten mit der verbundenen Rechtsfrage – Bände als Sacheinheit oder als Sachgesamtheit? – auffordern würde.
Wenn Sie jedoch merken, dass Sie allein infolge von Spekulationen und Kenntnissen, die nicht bei allen Bearbeitern vorausgesetzt werden können, in ein auffällig dichtes Prüfungsdickicht geraten, sollten Sie immer den Rückzug antreten. Also: Der „Grüne Heinrich“ ist ein Buch, und zwar nur ein Band.
d) Der Umgang mit der gezielten Verwirrung
Bleiben wir noch einmal bei dem Fall mit dem „Grünen Heinrich“. Normalerweise liegt hier die Sacheigenschaft auf der Hand; zu Studienzwecken kann man aber auch Sachverhalte basteln, bei denen den Bearbeitern das Subsumieren etwas mehr Mühe bereitet.
Beispielhafter Auszug:
„Als Sammler S sein Haus betritt, entdeckt er, dass A eine Stätte der Verwüstung hinterlassen hat. S beklagt, dass seine Vase aus der mittleren Qing-Dynastie zerschlagen, drei kostbarste Gemälde mit Lackfarbe übersprayt sowie etliche wertvolle oder erinnerungsträchtige Bücher durch Wasser zerstört wurden. Besonders schmerzt ihn der Verlust seines seit Jugendzeiten geliebten `Grünen Heinrich´.“
Auch hier ist dem Leser klar, dass der Grüne Heinrich eines der „erinnerungsträchtigen Bücher“ ist, aber der Sachverhaltssteller hat sich sichtlich Mühe gegeben, Ihnen das Signal zu geben: Es ist zweifelhaft, ob Heinrich ein Buch ist oder nicht etwa doch der geliebte alte Onkel mit der grünen Joppe. Dies sollten Sie wenigstens kurz würdigen.
Sie beginnen damit, dass Sie zu Beginn des Abschnitts „Subsumtion“ das zweifelhafte Sachverhaltselement knapp wiedergeben (siehe dazu unten im Beispieltext die Rn. 1). Dies verstößt zwar scheinbar gegen den bekannten Grundsatz, dass Sie den Sachverhalt – wie auch das Gesetz – „als bekannt voraussetzen“ können. Tatsächlich bleiben Sie dieser Maxime aber treu, da Sie keine vollständigen Passagen aus dem Falltext abschreiben, sondern der Subsumtion lediglich das fragliche Wort oder den Halbsatz aus dem Sachverhalt akzentuiert – teils zusammenfassend, teils wörtlich zitierend – kommentarlos voranstellen.
Mit dem nächsten Schritt bilden Sie einen eigenständigen konkreten, tatsachenhaltigen Obersatz (Rn. 2), um deutlich zu zeigen, dass Sie die Uneindeutigkeit erkannt haben.
Obersatz
A müsste eine Sache zerstört haben.
Rn.
Voraussetzung / Definition
Unter einer Sache ist jeder körperliche Gegenstand zu verstehen (§ 90 BGB).
Subsumtion
Laut Sachverhalt hat A verschiedene Objekte des Sammlers S beschädigt oder zerstört;
„besonders … schmerzt“ S der Verlust des „seit Jugendzeiten geliebten Grünen Heinrichs“.
1. Obersatz´
Fraglich ist bereits, ob es sich bei dem „Grünen Heinrich“ um einen Gegenstand handelt.
2. Begründung´
Wenn die Bezeichnung „Grüner Heinrich“ mit der Erläuterung „seit Jugendzeiten geliebt“ in einem anderen Zusammenhang auch auf eine menschliche, S nahestehende Person hindeuten könnte, handelt es sich unter Berücksichtigung des Tatorts, einer menschenleeren Villa, angefüllt mit Kunstgegenständen und wertvollen Druckerzeugnissen, doch erkennbar um ein Buch, das, verfasst vom Dichter Gottfried Keller, diesen Titel trägt.
3. Ergebnis´
Mithin ist das Tatobjekt „Grüner Heinrich“ ein körperlicher Gegenstand.
Ergebnis
Folglich hat A eine Sache i. S. d. § 303 Abs. 1 StGB zerstört.
Für die Prüfung des sachverhaltlichen Obersatzes´ mit der Begründung´ (Rn. 3) stehen Ihnen hier primär keine rechtlichen Argumente, sondern allgemeine bzw. alltägliche Gesichtspunkte zur Verfügung (Begründung´, Rn. 3).
Der zerstörte „Grüne Heinrich“ ist ein Gegenstand,
…denn es ist ein Buch (Prämisse: „Bücher sind Gegenstände“ – keine absolute Wahrheit, aber hier als Prämisse ausreichend plausibel),
…denn das ergibt die Berücksichtigung des Tatorts (Prämisse: Erheblichkeit des Zusammenhangs)
a) …denn die Villa war menschenleer (Prämisse: Wo kein Mensch ist, kann ein Mensch auch nicht Angriffsobjekt sein. → Umkehrschluss: Wenn keine Person, dann Gegenstand.)
b) …denn es ging A offensichtlich um Kunstgegenstände und Bücher, wozu die Zerstörung eines Buches passt, aber nicht die Verletzung eines Menschen.
Um alltägliche Argumentation etwas rechtstypischer zu stilisieren, können Sie rhetorische Figuren zur Verstärkung einsetzen. So machen Sie mit einer Restrictio wie „zwar … aber“, „wenn auch … so doch“, „gewiss … indes“ deutlich, dass Sie auch die Gegenposition zur Kenntnis genommen und deren Argumente im Blick haben.
„Wenn auch … in einem anderen Zusammenhang auf … hindeuten könnte“, (sprechen vorliegend die besseren Gründe doch dagegen).
Eine ausdrückliche Erörterung der widersprechenden Positionen kann auf diese Weise unterbleiben.
e) Tatsächliche Fragen, die durch Rechtssätze gelöst werden
Wiegt das tatsächliche Problem schwerer, können Sie sich weder mit einer Feststellung, noch mit der Kombination aus Begründung und rhetorischer Figur zufrieden geben. Vielmehr müssen Sie innerhalb der Haupt-Subsumtion (Rn. 1–7) den tatsachenhaltigen Obersatz´ (Rn. 2) mit rechtlichen Voraussetzungen bzw. Definitionen spezifizieren (Rn. 3–6), um anschließend das Sachverhaltsproblem einem Ergebnis´ (Rn. 7) zuzuführen. Mit dem Thema „rechtliche Voraussetzungen“ werden wir uns anschließend noch eingehend beschäftigen (unten 3.).
Beispiel für eine rechtliche Aufbereitung des Sachverhalts.
Es geht um die Frage, ob das angegriffene landwirtschaftlich genutzte Feld eine Sache ist.
Obersatz
A müsste eine Sache zerstört haben.
Rn.
Voraussetzung / Definition
Der strafrechtliche Sachbegriff schließt sich an den des bürgerlichen Rechts an, versteht unter einer Sache also einen körperlichen Gegenstand i. S. d. § 90 BGB.
Subsumtion
(Sachverhalt) Angriffsobjekt ist ein landwirtschaftlich genutztes Feld.
1. Obersatz´
Dabei müsste es sich um einen körperlichen Gegenstand handeln.
2. Voraussetzung´
Körperlichkeit setzt Beherrschbarkeit voraus, da eine „Sache“ als „Gegenstand“ von Besitz und Eigentum für den Menschen „beherrschbar“ sein muss.
3. Voraussetzungen´´
Beherrschbarkeit ist zu bejahen, wenn ein Gegenstand sinnlich wahrnehmbar und im Raum abgegrenzt oder zumindest abgrenzbar ist, und somit bei natürlicher Betrachtung als Einheit erscheint.
4. Voraussetzungen´´´
Was abgegrenzt oder abgrenzbar ist, entscheidet in erster Linie die Verkehrsauffassung und weniger die Physik.
5. Subsumtion´´ / Ergebnis´´
Nach der Verkehrsauffassung weist ein landwirtschaftlich genutztes Feld eine abgegrenzte Fläche auf und ist somit als Einheit wahrnehmbar.
6. Ergebnis´
Folglich handelt es sich um einen körperlichen Gegenstand.
Ergebnis
A hat eine Sache i. S. d. § 303 Abs. 1 StGB zerstört.
In diesem Beispiel sprechen wir die „Unter-Voraussetzung“ der sinnlichen Wahrnehmbarkeit in Rn. 4 nach dem Grundsatz der „Insbesondere-Prüfung“ wegen Selbstverständlichkeit nicht mehr an, sondern nehmen sie mit Bejahung des Oberpunkts „als Einheit wahrnehmbar“ in Rn. 6 stillschweigend mit.
f) Speziell: Auslegung von Erklärungen und Verträgen
Zu den Standardproblemen einer Anfängerarbeit zählt die missverständliche oder missverstandene Erklärung.
Strukturell sind Auslegungsfragen genauso zu lösen wie alle übrigen Fälle von Unklarheit, Unbestimmtheit und Dunkelheit des Sachverhalts. Materiell gibt es jedoch einen Unterschied: die Begründung für Ihre Interpretation (warum Sie sich für diese oder jene Bedeutung der dunklen Aussage entscheiden) erfolgt nach gefestigten Regeln, den sog. Auslegungsregeln.
So sollen z. B. Willenserklärungen nicht so verstanden werden, wie sie der Erklärende subjektiv gemeint hat, sondern – zugunsten eines sicheren Rechts- und Geschäftsverkehrs – „wie sie ein objektiver Empfänger in der Situation verstanden hätte (§§ 133, 157 BGB)“.
Dabei ist es keinesfalls so, dass alle unklaren Äußerungen im Recht nach denselben Klärungsregeln gelöst werden. Gerade in Bezug auf die Auslegung von unklaren Normen schwelt ständig Streit, da mit der Wahl der Methode immer auch eine Entscheidung für oder gegen den Inhaber der Interpretationsmacht und, im Anwendungsfall, für oder gegen eine der Konfliktparteien getroffen wird.
aa) Die unproblematische Erklärung
Präsentiert Ihnen der Sachverhalt eine unproblematische Willenserklärung, bleibt es bei einer kurzen Prüfung, bei der die Frage der Auslegung nur anklingt.
Obersatz
K müsste das Verkaufsangebot des V angenommen haben.
Voraussetzung
Dann müsste eine Annahmeerklärung vorliegen.
Definition
Eine Annahme ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die der Erklärende sein Einverständnis mit einem Vertragsschluss zum Ausdruck bringt.
Subsumtion
Die gemäß §§ 133, 157 BGB ausgelegte Antwort-E-Mail des K lässt sich vor einem objektiven Empfängerhorizont nur so verstehen, dass sich dieser damit einverstanden erklärt, einen Kaufvertrag mit V zu schließen.
Ergebnis
Damit liegt eine Annahme des Angebots vor.
bb) Die auslegungsbedürftige Erklärung
Kurze Prüfung, ob die Annahme eines Kaufantrags vorliegt.
Obersatz
K müsste das Verkaufsangebot des V angenommen haben.
Voraussetzung
Dann müsste eine Annahmeerklärung vorliegen.
Definition
Eine Annahme ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die der Erklärende sein Einverständnis mit einem Vertragsschluss zum Ausdruck bringt.
Subsumtion
Sachverhalt
Obersatz´
K hat an V einen Tag nach dessen Angebot durch eine E-Mail mit Geschäftsadresse und Firmensignatur die Worte gesendet: „Gerne einverstanden“. Damit könnte K sein Einverständnis mit einem Vertragsschluss zum Ausdruck gebracht haben. Problematisch ist jedoch, dass er dabei an einen von V´s Frau telefonisch geäußerten Wunsch, „irgendwann wieder einmal privat“ mit ihm und seiner Frau „zusammen Essen zu gehen“, und nicht an das ihm per E-Mail zugegangene Verkaufsangebot des V gedacht hat.
Vorauss.´ / Definition´
Willenserklärungen sind gem. §§ 133, 157 BGB so auszulegen, wie sie ein objektiver Empfänger in der Situation verstanden hätte.
Vorauss.´´
Dafür ist maßgeblich, wie ein verständiger, unbeteiligter Dritter ein bestimmtes Verhalten verstanden hätte.
Subsumtion´´
Wenn auch die Worte „gerne einverstanden“ sowohl zu einem freundschaftlichen Vorschlag wie einem Kaufangebot passen könnten, ist für einen verständigen, unbeteiligten Dritten hier doch eindeutig, dass sich die von der Geschäftsadresse abgesandte und mit Geschäftssignatur ausgestattete E-Mail des K nur auf das ebenfalls per E-Mail eingegangene geschäftliche Angebot des V beziehen konnte.
Ergebnis´
Aus der Sicht eines objektiven Empfängers
Ergebnis
liegt somit eine Annahme des Angebots vor.
Da die Sache hier nicht schwierig lag, konnten die Argumente, welche die Sicht des verständigen, unbeteiligten Dritten untermauerten, in der Subsumtion´´ nur durch Benennung angeführt werden. Wird es kritischer, müssten Sie die Begründungen expliziter ausführen.
| Angedeutete Argumente | Ausgeführte Argumente |
|---|---|
| …die von der Geschäftsadresse abgesandte… | Zum einen ist anzuführen, dass K seine E-Mail unter einer Geschäftsanschrift und nicht privat abgesandt hat. |
| …mit Geschäftssignatur ausgestattete… | Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass er seine Nachricht mit einer Geschäftssignatur abschloss. |
| …das ebenfalls per E-Mail eingegangene geschäftliche Angebot des V… | Schließlich ist hervorzuheben, dass es naheliegt, ein per E-Mail gesendetes Einverständnis auf ein per E-Mail an dieselbe Adresse eingegangenes Angebot zu beziehen und nicht auf ein Telefonat, das im privaten Rahmen von dritten Personen geführt wird. |
| In der Gesamtbetrachtung kann kein Zweifel daran bestehen, … |
Beispiel
B bewirbt in seinem Bioladen glutenfreie Schokokekse auf einer Tafel mit den Worten „frisch aus dem Ofen für 4 EUR / Stück“. Z sieht die Kekse in der Theke und sagt, dass er zwei davon kaufen möchte. „Leider schon alles vorbestellt“, bescheidet ihn B. Der Z meint dennoch, er habe einen Anspruch auf das Backwerk.
Voraussetzung: Kaufvertrag – Angebot und Annahme.
Obersatz
B müsste ein Angebot abgegeben haben.
Vorauss. / Definition
Ein Angebot ist eine Willenserklärung, durch die dem anderen Teil ein Vertragsschluss dergestalt angetragen wird, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dessen Einverständnis abhängt. Es müssen die wesentlichen Vertragsbestandteile (essentialia negotii) genannt und Rechtsbindungswille vorhanden sein.
Subsumtion / Sachverhalt / Obersatz´
B könnte ein Angebot abgegeben haben, indem er auf seine glutenfreien Schokokekse mit den Worten „frisch aus dem Ofen für 4 € / Stück“ hingewiesen und sie der Kundschaft in der Thekenauslage präsentiert hat.
Obersatz´´
Fraglich ist jedoch, ob er dadurch einen Rechtsbindungswillen ausgedrückt hat.
Vorauss.´
Dies ist durch Auslegung zu ermitteln.
Vorauss.´´
Dafür kommt es nicht auf den inneren Willen des Erklärenden an, sondern darauf, wie seine Äußerung vom Empfängerhorizont her verstanden werden konnte, vgl. §§ 133, 157 BGB.
Vorauss.´´´
Dafür sind alle aus der Sicht eines objektiven Beobachters erkennbaren Umstände heranzuziehen.
Begründung
Zu berücksichtigen ist vor allem, dass sich jemand, der sich an das breitere Publikum wendet, häufig vorbehalten muss, vor einem verbindlichen Vertragsschluss die eigene Leistungsfähigkeit und die Zahlungsfähigkeit des Gegners zu überprüfen, so dass es in solchen Fällen nicht selten am sofortigen Rechtsbindungswillen fehlen wird. In diesen Fällen spricht man von einer Invitatio ad offerendum.
Vorauss.´´´´ / Definition
Damit handelt es sich um eine Invitatio ad offerendum, wenn jemand offenkundig selbst noch kein Angebot abgeben will, sondern den anderen zur Abgabe von Angeboten auffordert.
Begründung / Ergebnis´´
Zwar war auf der Hinweistafel ausdrücklich von einem „Angebot“ die Rede. In Ergänzung mit der Präposition „im“ („im Angebot“) bringt B damit aber nach allgemeinem Sprachverständnis keine verbindliche Rechtserklärung zum Ausdruck, sondern bezeichnet seine Ware wegen des vorgeschlagenen Preises als „Sonderangebot“, „heruntergesetzt“ bzw. „vergünstigt“. Damit ist auch aus diesem Grund kein Rechtsbindungswille ersichtlich.
Ergebnis
B hat kein Angebot abgegeben.
Bietet der Sachverhalt noch größere Schwierigkeiten, sollten Sie Argumente mit Gegenargumenten diskutieren. Dabei müssen Sie jeden Punkt einer Lösung zuführen oder aber begründen, warum es vorliegend auf diesen Aspekt nicht ankommt.
3. Rechtsaussagen problematisieren
Wenn ein Sachverhalt auch manchmal Schwierigkeiten bereitet, folgt der größte Prüfaufwand doch aus der Rechtslage. Rechtsprobleme begegnen dem Gutachter bei den Prüfungspunkten „Rechtliche Voraussetzungen“ bzw. „Definitionen“, zum anderen im Teil „Subsumtion“, wenn eine Tatsache rechtlich eingeordnet werden muss. Die Rechtslage wird immer dann prüfungsaufwändig, wenn eine Rechtsaussage nicht selbstverständlich als richtig gilt. Das ist vor allem so, wenn zu einer Rechtsfrage – wie man sagt – „verschiedene Meinungen vertreten“ werden.
Sie alle kennen den Spruch „Zwei Juristen, drei Meinungen“.
Aber vorweg sei gesagt: auch wenn der Streit das Herzstück der Jurisprudenz ist, überwiegt doch das, worüber man sich unter Juristen einig ist.
a) Nicht der Rede wert
Deshalb beginnen wir auch diesen Abschnitt mit einem kurzen Blick auf das Selbstverständliche. Ähnlich wie bei den Tatsachen gilt bei den rechtlichen Aussagen, dass der Gutachter alles, worüber Einigkeit herrscht, schlicht feststellen oder sogar überspringen kann. Ins Gegenteil gewendet: Was klar ist, sollte nicht problematisiert werden.
Beispiel
Sie können ohne weiteres feststellen, dass zum Tatbestand des § 303 Abs. 1 StGB das Tatbestandsmerkmal „Sache“ gehört oder der „Kaufvertrag“ eine Voraussetzung des Tatbestands von § 433 Abs. 1 S. 1 BGB ist.
Genauso können Sie ohne Begründung oder Verweis auf den Meinungsstand die hergebrachten, seit Jahren unverändert geläufigen Definitionen verwenden.
Beispiel für eine Klausurlösung
„Eine Sache ist nach unstreitiger Auffassung fremd, wenn sie (zumindest auch) im Eigentum eines anderen steht“ — falsch
„Eine Sache ist fremd, wenn sie (zumindest auch) im Eigentum eines anderen steht.“ — richtig
„Fremd ist eine Sache, wenn sie (zumindest auch) im Eigentum eines anderen steht, also weder Alleineigentum des Täters noch herrenlos oder eigentumsunfähig ist, ganz h.M., vgl. nur Schönke/Schröder/Eser/Bosch Rn. 12; SK/Hoyer Rn. 11.“ — falsch
„Eine Sache ist fremd, wenn sie (zumindest auch) im Eigentum eines anderen steht.“ — richtig
b) Definitionen und Referenzen
Sobald diese fraglose Einhelligkeit schwindet, findet auch diese knappe – ebenfalls das Juristische auszeichnende – Darstellung ihr Ende. Nun beginnen Sie, die Rechtsaussage mit Definitionen, Erklärungen und Autoritätsreferenzen – also Zitaten, Verweisen auf Literatur und Rechtsprechung – zu ergänzen.
Beispiel
„Laut Di Fabio¹ ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung² kein von Art. 2 Abs. 1 GG verselbstständigtes und daher `neues Grundrecht auf Datenschutz´³.“
-
Maunz/Dürig/Di Fabio GG Art. 2 Rn. 173–178
-
BVerfGE 65, 1 (43 sowie Leitsatz Nr. 2); 78, 77 (84); 84, 192 (194); 92, 191 (197); 96, 171 (181); 101, 106 (121)
-
So aber Bäumler, JR 1984, 361 (362).
Freilich: Für Ihr Gutachten ist nicht jede abweichende, den Konsens trübende Meinung wichtig. Beachtlich sind lediglich Äußerungen von Fachautoritäten in den jeweils maßgeblichen Publikationsorganen. Dabei sind die feinen Abstufungen der professionellen und institutionellen Hierarchie zu beachten:
Die Auffassung des BGH zählt mehr als ein Urteil des Amtsgerichts Montabaur, das Lehrbuch des Altordinarius in 15. Auflage mehr als der erste Aufsatz des Doktoranden.
Zwar werden Sie immer wieder hören: nur der Inhalt, die Qualität der Argumente zählt. Tatsächlich kommt es entscheidend auf die Anerkennung des Autors und die institutionelle Autorisierung seiner Meinungsäußerung an. Ohne diese Momente kann sich keine autoritative Rechtsdogmatik herausbilden, und ohne eine solche fehlt der Rechtsgewinnung die entscheidende Orientierung. Die aber braucht sie spätestens dann, wenn mehrere Lösungen einer Rechtsfrage denkbar sind.
c) Mehrere Rechtsmeinungen
Den höchsten Grad der rechtlichen Problematisierung erreicht das Gutachten dort, wo ausdrücklich eingeräumt wird: zu dieser Frage werden verschiedene Rechtsmeinungen vertreten.
Beispiel
Laut Sachverhalt hat der „Deutschpatriotische Verbund DV“, eine unter Verwendung rechtsextremistischer Symbole und Parolen auftretende Vereinigung, eine Kundgebung auf dem Marktplatz von S angemeldet. Die Stadt S verbietet die Versammlung. Die historisch bedingte Werteordnung des Grundgesetzes grenze die demonstrative Äußerung nazistischer Meinungsinhalte aus dem Kanon grundrechtlich geschützter Freiheitsrechte aus. Der DV beruft sich dagegen auf den grundrechtlichen Versammlungsschutz in Art. 8 GG. Er entgegnet, er sei keine verbotene Organisation, seine Mitglieder würden keine Straftaten begehen, und er könne, unabhängig vom Inhalt der kundgegebenen Meinung, in einem freien Land dasselbe Recht wie jeder andere beanspruchen.
Mit diesem Sachverhalt stellt sich dem Bearbeiter ein Rechtsproblem, zu dem wenigstens zwei Meinungen vertreten werden.
Meinung 1:
Der grundrechtliche Versammlungsschutz (Art. 8 GG) ist im Fall rechtsextremistischer Versammlungen einzuschränken.
Meinung 2:
Der grundrechtliche Versammlungsschutz (Art. 8 GG) erstreckt sich auf Versammlungen unabhängig vom Inhalt der geäußerten Meinung, schützt also auch rechtsextreme Veranstaltungen.
Wenn ein Sachverhalt einen Meinungsunterschied so wie in diesem Beispiel exponiert, muss er als Meinungsstreit ausgetragen werden. Mit einem „zwar … aber“ oder einer Fußnote „a.A.“ („anderer Ansicht“) ist es nicht getan.
aa) Gewichtung
Nicht jeder Aufgabentext präsentiert Ihnen den Meinungsstreit allerdings so, wie in diesem Beispielsfall, auf dem Silbertablett. Manchmal fehlen so deutliche Hinweise wie hier, und Sie müssen sich selbst erschließen, ob Brisanz und Relevanz des Problems eine offene Streitdarstellung hergeben.
Um dies einschätzen zu können, muss man natürlich – Sie wissen das! – den Sachverhalt gründlich studieren; genauso unerlässlich ist aber auch der Überblick und das Vertrautsein mit dem Rechtsstoff. Sie sollten die klassischen Probleme und neueren Leitentscheidungen kennen, um in Ihrer Prüfungsarbeit die richtigen Schwerpunkte zu setzen.
So wird eine aktuelle Debatte regelmäßig mehr Raum beanspruchen als ein Meinungsstreit, der nur noch historische Bedeutung hat – etwa weil er inzwischen ausgefochten, entschieden oder durch den Gesetzgeber entschärft worden ist.
bb) Woran erkennt man einen Meinungsstreit?
Ein juristischer Meinungsstreit setzt voraus, dass anerkannte Fachvertreter zu einer Frage verschiedene Meinungen vertreten.
Rechtsmeinungen sind keine allgemeingültigen, ewigen und objektiven Erkenntnisse – keine Wahrheiten –, sondern zeit- und sozialbedingte Behauptungen und Einsichten, die man einvernehmlich oder auch kontrovers kommuniziert.
Beispiel
So sind Küsse zwischen Mann und Frau grundsätzlich auch dann nicht als unzüchtig anzusehen, wenn die Frau damit nicht einverstanden war (BGHSt. 1, 294, 298). Und selbst Zungenküsse sind, wie neuerdings zu § 176 Abs. 1 Ziff. 1 StGB entschieden worden ist, nicht ohne weiteres unzüchtige Handlungen, wenn die Beteiligten erwachsene Personen verschiedenen Geschlechts sind (BGHSt. 18, 169 = NJW 63, 97). Doch lässt sich diese Auffassung nicht auf die Fälle übertragen, in denen Männer einander Zungenküsse geben.
Daher ist es unter Juristen auch unüblich, Meinungen als „wahr“ oder „falsch“ zu titulieren. Charakteristisch sind Prädikate wie „überzeugend“, „schlagkräftig“, „gut begründet“, „nachvollziehbar“, „vertretbar“ oder „kaum noch vertretbar“.
(1) Versteckte Meinungsmäßigkeit
Die meisten Rechtsmeinungen werden nicht als Meinung bezeichnet, sondern wie objektive, unpersönliche Aussagen behandelt.
Beispiel für unpersönlich präsentierte Meinungen
M1: Nationalistische Hetze, die geeignet ist, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, kann kein legitimer, grundrechtlich geschützter Beitrag zur pluralistischen Meinungsbildung sein.
M2: Eine Äußerung, die nach Art. 5 Abs. 2 GG nicht unterbunden werden darf, kann auch nicht Anlass für versammlungsbeschränkende Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 2 GG sein.
Weiteres Beispiel
Fraglich ist, ob es sich bei dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung um ein „neues Grundrecht auf Datenschutz“ handelt, oder um eine interpretatorische Fortschreibung des Selbstdarstellungsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.
Der Meinungscharakter offenbart sich hier erst durch den Kontext: Die jeweilige Aussage wird diskutiert, kritisiert, der einen Aussage wird im Folgenden zugestimmt, man schließt sich ihr an, folgt ihr; die andere wird relativiert, in Frage gestellt, eingeschränkt, man widerspricht ihr, tritt ihr entgegen. Manchmal, aber nicht immer, wird die Meinungsmäßigkeit deutlich, weil der Verfasser benannt wird: Gerichte, akademisch ausgewiesene Autoren, die Exekutive als Verfasser amtlicher Begründungen.
(2) Offene Meinungsmäßigkeit
Wird eine Kontroverse offen ausgetragen, bezeichnen Juristen ihre Meinungen jedoch direkt als „Meinung“, „Auffassung“ oder „Ansicht“.
Beispiel des Bundesgerichtshofes …
Nach herrschender Meinung und ständiger Rechtsprechung
Vor dem Hintergrund der in der Instanzrechtsprechung und Literatur herrschenden Meinung ist der Auffassung entgegenzutreten…
Die in der neueren Rechtsprechung und Literatur vertretene Gegenmeinung überzeugt nicht…
Selbst wenn man hierzu eine andere Auffassung verträte,…
Eingehend zum Meinungsstand: …
In bestimmten Fällen wird statt von „Meinung“ auch von „Lehre“ oder – wenn die Auseinandersetzung wieder etwas weniger offen ausgetragen wird – von „Theorie“, „Schule“ oder „Lehre“ gesprochen; bei zunehmender Verobjektivierung tritt ein „Begriff“ oder „Prinzip“ auch streitig gegen das andere an. Im Vordringen befindlich sind auch moderne Bezeichnungen wie „Ansatz“, „Tendenz“ oder „Konzept“, um Meinungsgruppierungen zu benennen. Im Anfängergutachten sind diese Ausdrücke aber zu meiden.
III. Der Meinungsstreit
Jeder Meinungsstreit steht für einen Knotenpunkt im System Ihres Gutachtens und bietet dem Gutachter eine Chance zu glänzen. Beachten Sie nur einige, leicht erlernbare Anforderungen, die den Inhalt, den Aufbau und die sprachliche Darstellung betreffen, und Sie beherrschen die wichtigste Passage Ihrer Klausur.
-
Fallbezug
Ihre Aufgabe lautet: Löse diesen Fall! Nicht hingegen: Erstelle eine wissenschaftliche Abhandlung über ein abstraktes Problem.
Beispiel
Im Falle des Versammlungsverbots durch die Stadt S zulasten der „Deutschen Verbindung DV“ geht es weder um eine Aufarbeitung des Themas Rechtsradikalismus noch um eine allgemeine Abhandlung zur Frage der wehrhaften Demokratie oder zur Reichweite von Grundrechten von Personen mit radikalen Auffassungen.
Allerdings müssen Sie, um den jeweiligen Fall zu lösen, die anzuwendende Norm, also den abstrakten (und die genaue Bedeutung seiner abstrakten Merkmale bzw. Begriffe) hinlänglich klären.
a) Entscheidungszwang
Dafür hat man den offensichtlichen Meinungswiderspruch darzulegen und muss sich mit einer eigenen Stellungnahme entscheiden.
Die abschließende Entscheidung ist unverzichtbar. Der Gutachter – wie auch jeder Rechtspraktiker – steht unter Entscheidungszwang. Der Bearbeiter darf nicht ausweichen oder grundskeptische, metakritische Fragen stellen: Was überhaupt Recht, Gerechtigkeit oder Wahrheit sei? Wer sich anmaßen wolle, darüber je zu befinden?
Zweck eines Gutachtens ist es zwar, Fragen aufzuwerfen, am Ende hat es jedoch alle „vernünftigen“ Zweifel der Adressaten ausgeräumt.
Zu diesem ehernen Grundsatz gibt es eine Ausnahme: Dem Gutachter ist es gestattet, einen Meinungswiderspruch außer Acht zu lassen, wenn alle streitigen Auffassungen im konkreten Fall zum selben Ergebnis führen würden. Ist dies absehbar, greifen Sie kurz auf die möglichen Resultate vor und erklären: wegen der Folgenlosigkeit des Streits ist er unerheblich und braucht deshalb nicht entschieden zu werden.
Beispiel
Die Frage könnte hier offen bleiben, wenn die F nach beiden Rechtsmeinungen zu keinem Zeitpunkt Erbin des E geworden wäre. Da sowohl die Ansicht „M1 …“ wie die Meinung „M2 …“ … und damit zu demselben Ergebnis gelangen, ist eine Entscheidung entbehrlich.
Als Anfänger sollten Sie dieses Werkzeug jedoch mit Vorsicht einsetzen. Zum einen bricht man durch den Ergebnisvorgriff mit dem Gutachtenstil, zum anderen bringt man sich, falls man mit seiner Einschätzung fehlliegt, um die Darlegung eines „punktehaltigen“ Meinungsstreits.
Mit der eigenen Stellungnahme positioniert sich der Gutachtende innerhalb des abstrakten Meinungswettbewerbs und stellt zugleich die rechtliche Weiche für die konkrete Entscheidung seines Falles. Deshalb sollten bereits bei der Darlegung jeder Rechtsmeinung grundsätzlich deren Konsequenzen für den konkreten Fall geprüft werden.
b) Entscheidung im Wettbewerb der Argumente
Wenn eine abstrakte Rechtsfrage – eine Begriffsauslegung, eine Fallgruppenbildung – offensichtlich klärungsbedürftig ist, erfolgt dies in der jurisprudentiellen Tradition des Streits.
In der Regel widersprechen sich zwei Meinungen und tauschen im Wettstreit Pro- und Contra-Argumente aus, bis Sieger und Verlierer bzw. eine vermittelnde Position ermittelt sind.
Dieser Prozess ist kein „herrschaftsfreier Diskurs“, allein bestimmt durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“, sondern verläuft in Bahnen, die auf drei Weisen bestimmt und begrenzt sind:
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durch weitgehend gesetzlich geregelte oder aber wenigstens rechtsfachlich anerkannte Formen und Verfahren
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durch den Einfluss der rechtsprägenden Institutionen (Gerichte, Ministerien, Fachvereinigungen, Verlage usw.)
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durch die Wirkung von Autoritäten (hoheitliche, vor allem durch Normsetzung, aber auch traditionelle, fachliche und persönliche).
Auch wenn wir es gewohnt sind, ein Rechtsgutachten als „wissenschaftliche“ Problembearbeitung anzusehen, ist doch unübersehbar, dass die rechtliche Meinungs- und Systembildung, und damit auch der Meinungsstreit in einem Gutachten, nicht das Ergebnis einsamer, rationaler Gedanken ist, sondern aus dem geordneten Widerstreit von Auffassungen vor dem Hintergrund autoritativer Setzungen und institutioneller Zwänge hervorgeht.
Wegen dieser vielfältigen Einflüsse ist es trotz der großen Regelanstrengungen in der Jurisprudenz nie ganz möglich, die Entwicklung oder das Ergebnis eines Meinungsstreits vorherzusagen.
In einem überzeugenden Gutachten, Urteil oder einer anderen gelungenen Entscheidung obsiegt jedenfalls diejenige Meinung, die diesen vielfältigen Ansprüchen am besten Rechnung trägt.
Über die Auseinandersetzung zwischen abstrakten Rechtsstandpunkten darf jedoch nie der konkrete Fall vergessen werden. Nur diejenige Rechtsauffassung sollte sich durchsetzen, die am Ende auch eine gerechte normative Grundlage für die Lösung des zu entscheidenden Falles bietet.
Darum erfordert die Meinungsbildung wie die Ergebnisfindung ein „Hin- und Herwandern des Blicks“ zwischen Recht und Sachverhalt.
2. Aufbau
Der gutachtliche Meinungsstreit folgt einer strengen Gliederung, die man kürzen oder strecken, aber in der Abfolge nicht ändern sollte.
Grundstruktur
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Vorstellung des Problems mit Über- und Einleitungssatz
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Darstellung des Streitstandes
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Meinung 1
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Darstellung der Position
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Subsumtion
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Ergebnis
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Meinung 2
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Darstellung der Position
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Subsumtion
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Ergebnis
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Stellungnahme
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Zu den Argumenten für Meinung 1 und Meinung 2
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Begründung einer eigenen Position
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Ergebnis
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Dieser Aufbau lässt sich um beliebig viele weitere Meinungen ergänzen.
Wird eine Lösungsskizze verwendet, ist es üblich, auf Meinungsstreitigkeiten mit Kürzeln hinzuweisen, z. B.:
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M1 (oder: h.M. für „herrschende Meinung“)
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M2 (oder a.A. für „andere Ansicht“ bzw. M.M. für „Mindermeinung“)
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→ eigene Meinung / vermittelnde M
a) Vorstellung des Problems mit Einleitung
Sie beginnen mit einem Überleitungssatz und umreißen das Rechtsproblem, zu dem die unterschiedlichen Ansichten vertreten werden.
Beispiel:
Im Zeichen rechtsextremer, insbesondere zunehmend ausländerfeindlicher Aktivitäten hat die Frage nach den Grenzen des grundrechtlichen Versammlungsschutzes zu kontroversen Ansichten geführt. Gegenwärtig werden dazu verschiedene Positionen vertreten.
An dieser Stelle muss zwar der treffende rechtliche Bezugspunkt („Grenze der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit“) und der Fall („Versammlung von Rechtsextremisten“) genannt werden; eine genaue rechtliche Einordnung oder eine tiefere Betrachtung des Sachverhalts ist jedoch unangebracht.
Genauso wenig sollten Sie mit einer allgemeinen Analyse beginnen, etwa den historischen, politischen oder ökonomischen Hintergründen des Problems, denn Ihr Gutachten beschäftigt sich mit einem konkreten Fall, nicht – wie es etwa Aufgabe eines Gesetzgebers wäre – mit der Lösung abstrakt-genereller Fragen.
Ihre Einleitung beschränkt sich deshalb auf wenige, klare Sätze, die dem Leser helfen, die nachfolgenden Darstellungen der einzelnen Meinungen einzuordnen, miteinander zu verklammern und besser nachzuvollziehen.
b) Darstellung des Streitstandes
Bei der Darstellung des Streitstandes ist jede Meinung mit einer eigenen Überschrift zu versehen. Empfehlenswert ist eine inhaltsbezogene Überschrift, da dies aussagekräftiger ist als etwa „Erste Ansicht“ oder „Zweite Ansicht“.
Beispiel:
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Beschränkung rechtsextremistischer Versammlungen [für M1]
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Schutz rechtsextremistischer Versammlungen [für M2]
Wenn Sie mit „Erster Meinung“, „Zweiter Meinung“ titeln, gilt das aber nicht als falsch.
Zu vermeiden sind jedoch qualifizierende Überschriften wie „Herrschende Ansicht“ oder „Mindermeinung“, denn diese Zuschreibungen beziehen sich nicht auf den Inhalt der Aussagen (Logos), sondern auf deren Anerkennung im Fachdiskurs (Ethos).
Die Ethos-Faktoren sind zwar, wie schon öfters betont, bei der Meinungsbildung sehr wichtig; nach Möglichkeit sollte man sie aber nicht direkt ansprechen oder gar argumentativ benutzen.
Während des Studiums soll Ihnen jedoch das Werkzeug an die Hand gegeben werden, Autoritäten kritisch hinterfragen zu können, weshalb die Arbeit mit Begriffen wie „Herrschende Meinung“ bzw. „Mindermeinung“ – die bereits vorab eine Wertung treffen – verpönt ist.
Die Darstellung einer Meinung umfasst auch ihre dogmatische Begründung, also eine genaue Darlegung, auf welchen Elementen diese Ansicht basiert.
Ihre Ausarbeitung folgt dem Schema:
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„Nach der einen Auffassung (ist es so …). Diese Ansicht wird damit begründet, dass …“
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„Nach der anderen Meinung (ist es so …). Für diesen Standpunkt wird angeführt, dass …“
Beispiel – „Beschränkung rechtsextremistischer Versammlungen“
Nach einer Meinungsgruppe ²⁴ unterliegt das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 GG), wenn es für eine rechtsextremistische Ideologie wie dem Nationalsozialismus in Anspruch genommen wird, kraft Auslegung einer verfassungsimmanenten Beschränkung.
Diese Auffassung wird damit begründet, dass es die Werteordnung des Grundgesetzes verbiete, eine Ideologie, die auf Rassismus, Kollektivismus und dem Prinzip von Führung und unbedingtem Gehorsam aufbaut, mit Mitteln des Demonstrationsrechts – auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen – zu legitimieren.
Damit seien rechtsextreme Versammlungen unter Berücksichtigung der Menschenwürde, des Prinzips der wehrhaften Demokratie und den Artikeln 79 Abs. 3, 20 Abs. 4, 26 GG sowie durch eine restriktive Auslegung des Art. 8 Abs. 1 GG aus dem Grundrechtsschutz zu verbannen.
Dabei gehe es nicht lediglich darum, politisch missbilligte Meinungen zu unterbinden, vielmehr seien Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit mit der Wertevorstellung des Grundgesetzes schlechthin nicht vereinbar.
Der Ausschluss des nationalsozialistischen Gedankenguts sei ein historisch zu betrachtender Verfassungsbelang, der sich in Art. 139 GG niedergeschlagen habe. ²⁵
Deshalb können Versammlungen, die durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung gem. § 15 Abs. 1 VersG verboten werden. ²⁶
Der Umfang und die Tiefe der angeführten Argumente hängen von der Brisanz und Komplexität des Problems ab.
Letztendlich ist entscheidend, dass der Standpunkt nachvollziehbar vermittelt wird.
Wird das Gutachten im Rahmen einer Hausarbeit angefertigt, ist die Darstellung mit Fundstellen zu belegen. Dabei ist es ratsam, eine herrschende Meinung gegenüber einer Mindermeinung durch den Umfang von Belegen – also quantitativ – sichtbar zu machen.
c) Subsumtion und jeweiliges Ergebnis
Ein schwerwiegender Fehler ist es, Meinungen lediglich abstrakt darzustellen und keine Verbindung zum Fall zu finden.
Stattdessen müssen Sie unter jede dargestellte Ansicht den Sachverhalt subsumieren und auf Grundlage dieser Meinung ein konkretes Ergebnis benennen.
Dieser Schritt hat für jede Meinung gesondert zu erfolgen und ist unabdingbar.
Beispiel [Subsumtion von M1]
Die geplante Zusammenkunft der DV unter Verwendung von Attributen wie Trommeln, Fahnen und Springerstiefeln dient der Kundgebung rechtsextremen Gedankengutes. Eine solche Versammlung ist geeignet, Ausländerfeindlichkeit und Rassendiskriminierung zu schüren sowie die Achtung vor der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die freiheitlich-demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes (Art. 20 GG) in Frage zu stellen. Damit befindet sie sich nicht im Einklang mit der elementaren Werteordnung der Verfassung, die nach dieser Ansicht den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG durch Auslegung einschränkt (Gedanken der streitbaren Demokratie).
Das einzelne Subsumtionsergebnis bedarf in Ihrem Text meist keiner gesonderten Hervorhebung, sondern beschließt den Passus „Subsumtion“.
Beispiel:
… Damit kann die DV nach dieser Meinung für ihre Versammlung keinen grundrechtlichen Versammlungsschutz beanspruchen.
d) Stellungnahme
Nachdem Sie alle unterschiedlichen Meinungen dargestellt und subsumiert haben und die abweichenden Ergebnisse feststehen, beziehen Sie selbst unter einer gesonderten Überschrift Stellung.
aa) Überhaupt erforderlich?
Als Ausgangssituation sind zwei Konstellationen denkbar:
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Entweder alle dargestellten Meinungen kommen zum selben Ergebnis → dann ist ein Streitentscheid entbehrlich.
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Formulierungsvorschlag:
„Alle Ansichten gelangen zu demselben Ergebnis, daher ist der Streit nicht zu entscheiden.“
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-
Oder: nur eine einzige Meinung führt zu einem anderen Ergebnis → dann ist ein Streitentscheid erforderlich.
Dieser bildet regelmäßig einen Schwerpunkt der Aufgabenlösung und hat umfassend und bedacht zu erfolgen. Nur in Ausnahmesituationen kann eine Verkürzung angebracht sein.
bb) Für und Wider
Für die eigene Stellungnahme untersuchen Sie im ersten Schritt die dargestellten Meinungen (z. B. M1, M2), indem Sie sich mit deren Begründungen auseinandersetzen.
Das bedeutet:
Sie bewerten die Argumente, die von den widerstreitenden Auffassungen ins Feld geführt werden.
Hierfür bringen Sie auch neue Gesichtspunkte an und können Ihre eigene Auffassung anklingen lassen.
Den Modus der abwägenden Auseinandersetzung behalten Sie bei. Erst im Anschluss daran formulieren Sie Ihre eigene Position.
Standardschema für die Bewertung von Rechtsmeinungen
I. Bewertung der Meinungen
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Meinung 1:
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Dafür sprechen die Argumente …
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Meinung 2:
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Wenn auch einzuwenden ist …
-
spricht doch dafür (und damit gegen M1) …
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und außerdem ist für M2 geltend zu machen …
-
II. Entscheidung für einen Standpunkt
Beispiel:
„…Der ersten Ansicht mit ihrer engeren, durch die grundgesetzliche Werteordnung beschränkten Auslegung der Versammlungsfreiheit ist zugute zu halten, dass sie die Gefahr, die von rechtsextremen Bewegungen für die Gesellschaft, aber auch für die Verfassung droht, nicht verkennt.
Auf diese Weise hält sie das Bewusstsein wach, dass die Rechtsgemeinschaft stets vor politisch verbrämtem menschenverachtendem Gedankengut und Rechtsterrorismus auf der Hut bleiben muss und fordert die Rechtsprechung heraus, diesem Problem auch durch ein Überdenken herkömmlicher Rechtsansichten und Auslegungsweisen zu begegnen.
Fraglich ist aber, ob dieser Interpretationsansatz tatsächlich zum gewünschten Erfolg führt. Das Verbot rechtsextremer Versammlungen und der damit einhergehende Wille, verfassungsfeindliche Meinungen vom öffentlichen Willensbildungsprozess auszuschließen, führt mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, dass die Politikverdrossenheit innerhalb der Anhängerschaft zunimmt, sie sich provoziert fühlt und sich zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit, also im Untergrund, weiter verbreitet. Dort fehlen dem Staat Zugang und Einfluss; ihm stehen nur noch repressive Mittel der Bekämpfung zur Verfügung.
Zudem lebt die Demokratie vom freien Willensbildungsprozess und ist darauf ausgerichtet, auch jene Meinungen, die nicht mit den Ansichten der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmen, in den öffentlichen Diskurs zu integrieren.
Die Kraft eines Rechtsstaates zeigt sich gerade darin, dass er den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden rechtsstaatlichen Grundsätzen unterwirft. Rechtsstaatliche Garantien dürfen nicht in der Weise unterlaufen sein, dass bestimmten Parteien oder Personen der Schutz eines Grundrechts wie Art. 8 GG grundsätzlich verwehrt wird; dieses Grundrecht garantiert gerade auch Minderheiten Äußerungsmöglichkeiten und unterwirft die Bestimmung der Grenzen dem Gesetz. ²⁷
Der freiheitliche Rechtsstaat zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er auch seinen Gegnern eine grundrechtlich untermauerte Freiheit zugesteht, im Gegensatz zu einem totalitären Staat, der sich anmaßt, zwischen schützenswerten und nicht-schützenswerten Meinungen zu differenzieren. Erst im Konflikt mit dem Staat und seinen Wertvorstellungen erhalten Grundrechte als Abwehrrechte ihren Wert, denn es sind die „Gegner“, die staatlichen Eingriffen besonders ausgesetzt sind.“
In einer Hausarbeit werden Sie sich bei der Behandlung des zentralen Meinungsstreits sorgfältig mit jedem einzelnen Argument auseinandersetzen – wenn auch nicht im selben Umfang.
Ohnehin ist es eine Wissenschaft für sich, die Begründungen von Meinungen zu einzelnen Argumenten zu gruppieren.
Fühlen Sie sich also frei, diejenigen Gesichtspunkte aus der Diskussion herauszugreifen, die Ihnen für Ihren Fall tragend und wichtig erscheinen.
Langschema für die Bewertung von Rechtsmeinungen
I. Bewertung der Meinungen
Meinung 1 stützt sich auf das Argument „x“
Für diese Überlegung spricht, …
gegen diesen Gedanken ist aber anzuführen…
Meinung 1 macht weiterhin Grund „y“ geltend.
Natürlich ist „y“ nicht zu verkennen, …
allerdings ist einzuwenden, dass ….
Meinung 1 hebt schließlich auf „z“ ab.
Zwar ist „z“ …,
jedoch …
Dagegen führt Meinung 2 Argument „p“ ins Feld.
An „p“ überzeugt …,
wenn auch gegen „p“ spricht …
Meinung 2 stützt sich weiterhin auf „q“.
Für „q“ spricht, …
allenfalls könnte man zu bedenken geben, dass ….
II. Entscheidung des Meinungsstreits
Angesichts der Gründe, die M2 vorträgt, wird dieser Auffassung mit der Maßgabe gefolgt, dass … (vermittelnde Meinung)
Für die vermittelnde Meinung spricht…
In Klausuren fasst man jedoch die Argumente Pro und Contra zumeist meinungsbezogen zu Bündeln zusammen. Eine Norm gibt es nicht, unerlässlich ist nur, dass Ihre Argumentation transparent bleibt. Der Leser möchte also stets im Bilde sein:
Mit welcher Auffassung beschäftigen Sie sich gerade?
Argumentieren Sie gerade Pro? oder geht es jetzt um Contra?
In Bezug auf die Position als Ganzes?
Oder in Bezug auf ein Argument der einen Position? Auf welches?
Auf welchen Gesichtspunkt genau stützen Sie Ihren Gedanken?
Auf ein Argument der anderen Meinung? (Zitat!)
Oder ein neues, eigenes? Oder auf eine andere, weitere Auffassung? (Zitat!)
Neue Argumente: Können Sie sie übersichtlich ordnen? Sind es rechtliche, methodische, tatsächliche?
Rechtliche Argumente könnten in der Ordnung einer vorgestellten Normenhierarchie folgen. Methodische orientieren sich vermutlich am Auslegungskanon. Tatsächliche Argumente berücksichtigen standardmäßig Topoi wie Folgenberücksichtigung, Interessenausgleich oder Effektivität, und sollten ebenfalls nachvollziehbar und sachgerecht eingesetzt werden.
Eine genaue Vorgabe für die Bewertung von Meinungsstreitigkeiten werden Sie aber nicht finden. Zu unterschiedlich sind Gutachten in ihrer Form, hinsichtlich ihrer Adressaten, der Komplexität des Problems und der oftmals gewachsenen Struktur der Diskussionen.
Wie so häufig, ist dagegen einigermaßen sicher, wie man es nicht machen sollte:
Die verschiedenen Meinungen darstellen und dann unmittelbar im Anschluss daran eine eigene Meinung (M3) präsentieren und begründen, warum die besser ist.
Dies wirkt so, als ob Sie notgedrungen erst einmal alle anderen zu Wort kommen lassen, ihnen aber nicht zuhören und dann sagen: und jetzt bin ich an der Reihe.
Der Gutachter gewinnt aber seine Position in der Auseinandersetzung mit den Argumenten der Fachwelt.
Was auch nicht geht: Gleich für eine der Positionen Partei ergreifen und nur noch Gründe zu deren Gunsten aufführen; eventuell dazu noch die Gegenauffassung angreifen, als Krönung: mit boshaften Bemerkungen attackieren.
cc) Pro und Contra führen zum Ergebnis
Die Diskussion der Meinungen und ihrer Argumente ist kein akademischer Selbstzweck. Sie führen sie nicht umsonst unter der Überschrift „Stellungnahme“.
Deshalb werden Sie sich bei der Erstellung des Gutachtenkonzepts und spätestens nach der Niederschrift der gewissenhaft-neutralen Darstellung der Meinungen Ihren eigenen Standpunkt gebildet haben. Im Licht dieser Entscheidung werden Sie sich anschließend unter dem Titel „Stellungnahme“ mit den Argumenten auseinandersetzen. Das bedeutet konkret:
In diesem Abschnitt dürfen Sie Ihre neutrale Position gegenüber den Meinungen aufgeben und durch sachliche, also besonders aufbautechnische und argumentative Mittel eine Seite unterstützen. Hierzu gibt es keine festen Regeln, aber zum Repertoire gehört z. B.
zunächst die Argumente darzustellen, welche für die nicht favorisierte Meinung streiten,
sodann diese Gründe zu widerlegen,
und schließlich die Argumente für die favorisierte Meinung folgen zulassen.
Dieser Strategie folgt das erste kurze Schema oben unter (2):
Meinung 1
Dafür sprechen die Argumente …
Meinung 2
Wenn auch einzuwenden ist…
spricht doch für M2 (und damit gegen M1) …
und außerdem ist für M2 geltend zu machen …
Daneben gibt es andere Möglichkeiten der Akzentuierung. Zum einen können Sie auf unterschiedliche Weise ergebnisorientiert Gliedern, zum anderen durch die Gewichtung, die Wortwahl sowie vor allem den Gebrauch Rhetorischer Figuren der einen oder anderen Auffassung Boden bereiten.
Wie Sie dies bewusst und erfolgreich leisten können, erfahren Sie in unserem Kurs zur Juristischen Rhetorik. Hier sei schon einmal gesagt, dass es sich lohnt, über rhetorische Mittel und Wirkungen in der Jurisprudenz genau nachzudenken, denn ein Handbuch, gar eine Anleitung für alle Fälle existiert nicht. Deshalb wäre es gut, wenn jeder Einzelne verstehen lernte, wie unsere Kommunikation, auch in den Angelegenheiten des Rechts, auf besondere Weise durch rhetorische Beziehungen bestimmt wird.
Aus diesen Kenntnissen kann man Kompetenzen und auch Anforderungen für eine erfolgreiche Argumentation ableiten, zum Beispiel die Faustregel, dass das stärkste Argument an den Schluss zu setzen ist. Man wird dann aber auch die Einsicht gewonnen haben, dass es sich dabei lediglich um eine Faustregel handelt, und es gutachtliche Fälle gibt, bei denen von dieser Ordnung abgewichen werden sollte.
Eine letzte Bemerkung zu Pro und Contra: Die Kunst besteht darin, mit argumentativen Mitteln eine Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Standpunkten mit Ergebnistendenz zu führen. Der Gutachter bezieht nicht unsachlich Stellung, z. B. durch sprachliche Abwertungen, Verweigern der Auseinandersetzung oder gar persönliche Angriffe. Die Überlegenheit des Juristen besteht darin, dass er den argumentativen Modus durchhält, sachlich bleibt und allen Positionen „Gehör gewährt“. Das heißt nicht, dass alle auf Ihrer gutachterlichen Bühne dieselbe Entfaltungsmöglichkeit bekommen, aber: Sie werden jeden Meinungsvertreter korrekt behandeln und nicht vergessen, dass es sich um eine Kollegin oder einen Kollegen handelt, von denen jeder versucht hat, eine gute Arbeit zu Papier zu bringen.
dd) Begründung der eigenen Position
Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Meinungen, bei der das Für und Wider der einzelnen Gesichtspunkte abgewogen wird, bildet die Grundlage für die eigene Position und eine nachvollziehbare, sachhaltige und schlüssige Begründung.
So zwingend es ist, überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen, so grundsätzlich offen bleibt es, wie Ihre eigene Antwort lautet. Die „One Right Answer Thesis“ von Ronald Dworkin, nach der es immer nur genau eine richtige Antwort auf ein Rechtsproblem gibt – wie es auch nur genau ein einziges richtiges Urteil geben könnte28 – , passt nicht zu unserem Rechtssystem, in dem wir dazu stehen, dass sich Rechtsauffassungen in der Debatte entwickeln, verändern, im Instanzenzug kritisiert, bestärkt und auch manchmal revidiert werden. „Grundsätzlich offen“ meint freilich nicht, dass „alles möglich ist“, und auch nicht, dass „alles vertreten werden kann, was gut begründet wird“.29 So werden Sie sehen, dass nach einer soliden Auseinandersetzung mit den Argumenten der Fachwelt der „Spielraum“ für eine eigene überzeugende Position klein geworden ist.
Zu den typischen Varianten der „Entscheidung“ zählt entweder die Parteinahme für eine der vorgestellten Meinungen oder das Votum für eine sogenannte „vermittelnde Meinung“.
Schema „Entscheidung des Meinungsstreits“
II. Entscheidung des Meinungsstreits
Angesichts der Gründe, die M2 vorträgt, wird dieser Auffassung mit der Maßgabe gefolgt, dass … (vermittelnde Meinung)
- Für die vermittelnde Meinung spricht...
- Außerdem streitet für diese Ansicht
- Durch die vermittelnde Meinung gelingt es, wird es vermieden …
- Nicht zuletzt mit Blick auf die Lösung des Falles
- Auch in vergleichbaren Fällen
- Ebenso der BGH / Instanzenrechtsprechung / Autoritäten in der Fachliteratur
Wenn Sie mit Ihrer „Entscheidung“ nicht vermitteln, sondern sich einer der dargestellten Meinungen anschließen wollen, ist es angebracht, in der Begründung der unterlegenen Meinung noch einmal kurz Referenz zu erweisen. Dafür bieten sich rhetorische Figuren wie „zwar … aber“ an; eleganter ist es, auf das gemeinsame Interesse aller Meinungsvertreter hinzuweisen, z. B. den Verbraucherschutz, dem Willen des Gesetzgebers Geltung zu verschaffen, usw.
Beispiel
„Stellungnahme: Als Verfassung eines Staates und seiner Bürger ist das Grundgesetz auf die allgemeine Anerkennung seiner grundlegenden Werte angewiesen. Gleichzeitig berücksichtigt es aber auch, dass Ideal und Wirklichkeit auseinander fallen können. Statt von jedem Bürger unbedingte Identifikation zu verlangen, beschränkt sich die Verfassung darauf, der Pluralität des Meinungsbildungsprozesses Grenzen zu setzen. Diese werden aber erst dort erreicht, wo ein Missbrauch der Meinungsfreiheit und des Parteienprivilegs sicher ist und eine Unterwanderung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates bezweckt. An diesem Punkt setzen auch die Schutzmechanismen der Verfassung als ultima ratio30 ein, beispielsweise die Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG oder das Mittel, ein Partei- und Vereinigungsverbot zu verhängen (Art. 21 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 GG).31
Auf der Ebene des einfachen Gesetzes setzen vor allem das Strafgesetz sowie das Polizei- und Ordnungsrecht der Versammlungsfreiheit Grenzen. Diese speziellen, über einen langen Zeitraum entwickelten Regelungsvorgaben würden umgangen, wenn man bereits im Vorfeld den Versammlungsschutz einerseits unter Bezug auf die notwendig abstrakte Wertordnung des Grundgesetzes und andererseits speziell für die Fälle von Versammlungen mit rechtsextremen Meinungsäußerungen eingrenzte. Daher ist eine Beschränkung des grundrechtlichen Versammlungsschutzes abzulehnen und der zweiten Ansicht der Vorzug zu geben.
Wenn Sie nicht wissen, wie Sie sich entscheiden sollen, hilft manchmal folgender Kunstgriff: Im darstellenden Teil polarisieren Sie die Meinungen. Am besten behaupten Sie, dass zwei extreme Lager existieren, z. B.
- objektive – subjektive Theorie
- formeller – materieller Ansatz
- weite – enge Auslegung.
Die Zwischentöne, die „vermittelnden Ansätze“ sparen Sie aus. Besonders unwillkommen ist an dieser Stelle die „vermittelnde Meinung“. Anschließend jedoch, wenn Sie unter „Entscheidung des Meinungsstreits“ Ihre eigene Position beschreiben müssen, nehmen Sie den Standpunkt eben dieser vermittelnden – oder der herrschenden – Auffassung ein. Natürlich werden Sie dann Ihre Position auch mit den Argumenten dieser Meinung begründen.
Dies hat den Vorteil, dass Sie zumindest mit Ihrem Ergebnis nicht ganz aus der Reihe fallen und in den Fußnoten Ihre eigene Position mit den „stärksten“ Fundstellen belegen können.
Am besten ist es natürlich immer, wenn Sie sich selbstständig eine Meinung über die diskutierten Meinungen bilden und diesen Standpunkt mit eigenen, selbsterdachten Argumenten vertreten. Bis Ihnen das überzeugend gelingt, brauchen Sie aber noch etwas Einblick und Übung. Solange kann es nicht schaden, für die eigene Stellungnahme einen fremden, bereits vorgetragenen Argumentationszusammenhang zu übernehmen, natürlich jede Aussage sorgsam mit Fundstellen zu belegen, und die Eigenleistung auf Modifikationen und Ergänzungen in der Begründung zu beschränken.
Eine letzte Klarstellung: Unter der Überschrift „Entscheidung des Meinungsstreits“ nehmen Sie zu den Meinungen verschiedener Fachautoritäten Stellung. Das bedeutet: Sie entscheiden und begründen, nicht jemand anderes, etwa „der BGH“ oder die „herrschende Meinung“. „Die vorgenannten Meinungen überzeugen nicht. Richtigerweise ver- falsch
„Wenn auch die von Medicus vertretene Auffassung … soll doch im falsch
"Die Gründe des Vertrauensschutzes sprechen für die zuletzt genannte Auffassung. Es erscheint sachgerechter,…“ richtig
Andererseits sollten Sie nicht so weit gehen, und an dieser Stelle ausdrücklich Ihre eigene Meinung als Lösung des Rechtsproblems präsentieren. Damit würden Sie Ihre Rolle als Gutachter überschreiten. Ihre Aufgabe besteht in der Aufbereitung und Entscheidung eines in der Rechtsdogmatik unter den Fachautoritäten herrschenden Zweifels.
meine, auch vom BVerfG unterstützte Meinung …“ rie vorzuschlagen. …“ nannte Auffassung. Es erscheint sachgerechter,… „Die vorgenannten Ansichten überzeugen nicht. Richtig ist dagegen falsch
„Als dritte Meinung ist damit die subjektiv-historisch-materielle Theorie vorzuschlagen. …“ falsch
"Die Gründe des Vertrauensschutzes sprechen für die zuletzt ge- richtig
Dennoch bietet sich Ihnen ausreichend Raum, Ihre eigene Auffassung einzubringen. Sie haben die Macht, Argumente zu gliedern, zu gewichten, zu ergänzen, zu straffen und vor allem zu formulieren. Dieser Einfluss ist manchmal größer als die Möglichkeit, in eigenem Namen seine persönliche Ansicht zu verkünden.
3. Sprachliche Darstellung
Ihr Text wird durch klare, einfache und knappe Sätze verständlich.
Hilfreich ist immer, wenn Sie sich vorstellen, Sie müssten den Argumentationsgang einer Meinung einem Nicht-Juristen erzählen, zum Beispiel Ihrem Partner oder Ihren Freunden bei einem entspannten Abendessen. Auch wenn man es manchmal kaum glaubt: aber hinter jeder noch so schwierig klingenden juristischen Begründung steckt die Geschichte eines Streits, und erst wenn man diese „Narration“ verstanden hat, wird man die Rechtsmeinung letztlich einschätzen können.
Insgesamt achten Sie auf eine neutrale, nüchterne und sachliche Sprache, auch wenn Sie innerlich engagiert für oder gegen etwas Stellung beziehen. Als unpassend gilt der persönliche Ton wie „meiner Meinung nach“, „ich denke, dass...“. Gänzlich verfehlt sind heftige Wertungen, abfällige oder ironische Beleuchtungen einer Ansicht oder gar Beleidigungen des Verfassers.
Beispiel
„Canaris verkennt hier völlig…“ falsch
„Man fragt sich ernstlich, ob es dem Bundesverfassungsgericht tatsächlich entgangen ist, dass die Bundesrepublik seit 1952 …“ falsch
„Auch wenn diese evident absurde Argumentation jeder Logik entbehrt, gibt sie doch ein nützliches Beispiel für die Fragwürdigkeit...“ falsch
„…kann aus den genannten Gründen nicht gefolgt werden.“ richtig
„…ist insbesondere angesichts von … kaum vertretbar und vermag daher nicht zu überzeugen.“ richtig
Als Faustregel gilt: Wenn Ihnen Ihr Text bei der Darstellung von Rechtsmeinungen so richtig zu gefallen beginnt, sind Sie stilistisch und inhaltlich meist schon auf Abwegen.
Beispiel für die schulmäßige Darstellung einen Meinungsstreits 32
„Nach der sog. Willenstheorie (Minderansicht) ist für die Frage, ob ein Verhalten eine Willenserklärung darstellt, allein der subjektive Wille des Erklärenden entscheidend. Das Erklärungsbewusstsein ist demnach unverzichtbarer Bestandteil einer Willenserklärung. Sein Fehlen hat mithin zur Folge, dass eine Willenserklärung nicht vorliegt. Dieses Ergebnis wird aus § 118 BGB abgeleitet. Nach § 118 BGB ist eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung nichtig. Wenn aber eine nicht ernst gemeinte Willenserklärung nichtig sei, müsse das „erst-recht“ dann gelten, wenn dem Erklärenden das Erklärungsbewusstsein fehle (vgl. Canaris, NJW 84, 2281). Denn hier möchte der Erklärende sogar noch weniger als bei § 118 BGB: Er möchte nicht einmal den Anschein erwecken, überhaupt etwas rechtlich Erhebliches zu erklären. Folgt man dieser Auffassung, hätte G kein wirksames Angebot abgegeben. Eine Willenserklärung des G läge also gar nicht vor.
2. Nach der sog. Erklärungstheorie (herrschende Meinung) ist hingegen nicht der subjektive Wille des Erklärenden für die Frage, ob eine Willenserklärung vorliegt, maßgeblich, sondern wie ein objektiver Dritter das Verhalten verstehen durfte. Das Erklärungsbewusstsein wird also für verzichtbar erklärt; entscheidend ist vielmehr, ob für einen objektiven Dritten der Eindruck entstanden ist, der Erklärende habe Erklärungsbewusstsein gehabt (sog. potentielles Erklärungsbewusstsein). Maßgeblich ist eine objektiv-normative Auslegung der Erklärung, d.h. es ist zu prüfen, ob ein unbeteiligter, verständiger Dritter die Erklärung als Willenserklärung auffassen durfte. Eine Ausnahme wird nur für den Fall gemacht, dass der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht erkennen konnte, dass er etwas rechtlich Erhebliches erklärte. Hintergrund dieser Ansicht ist der Schutz des Rechtsverkehrs. Ein Erklärungsempfänger soll auf das Vorliegen einer Willenserklärung vertrauen können, wenn ein Verhalten als solche verstanden werden durfte, und soll nicht den Unsicherheiten der Maßgeblichkeit einer subjektiven Wahrnehmung ausgesetzt sein. Da es bei Versteigerungen üblich ist, die Hand zu heben, wenn man ein Gebot abgeben möchte, hätte auch ein unbeteiligter Dritter das Verhalten des G als rechtlich verbindliches Angebot verstanden. Außerdem hätte G bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt unproblematisch erkennen können, dass sein Verhalten vom Empfänger als Willenserklärung aufgefasst werden durfte (so im Originalfall des BGH in BGHZ 91, 324, 330). Nach der Erklärungstheorie muss sich G also an seiner Erklärung festhalten lassen und sich so behandeln lassen, als wäre er sich der rechtlichen Bedeutung seiner Handlung bewusst gewesen. Es geht hier darum, einen gerechten Interessenausgleich zu treffen: Die Willenstheorie schützt den Erklärenden, die Erklärungstheorie den Erklärungsempfänger, der auf das Erklärte vertraut. Der Mittelweg liegt nun darin, grundsätzlich den Empfänger zu schützen, der in sein Gegenüber nicht „hineinschauen“ kann. Das soll aber nur dann gelten, wenn der Erklärende selbst die rechtliche Bedeutung seines Verhaltens hätte erkennen können. Denn dann ist der Erklärende weniger schutzbedürftig als der Erklärungsempfänger."
Stellungnahme: Die Gründe des Vertrauensschutzes sprechen für die zuletzt genannte Auffassung. Es erscheint sachgerechter, dem Erklärenden zuzumuten, sich über bestimmte Verhaltensweisen zu informieren, als den Erklärungsempfänger der mit der Maßgeblichkeit subjektiver Kriterien verbundenen Unsicherheit auszusetzen. Mit der Erklärungstheorie ist daher von der Entbehrlichkeit des Erklärungsbewusstseins und dem Vorliegen einer Willenserklärung auszugehen.“
Schlussbemerkung
Dieser Beitrag bringt manches, was in bekannten Einführungen steht; vieles, was jeder Jurist kennt; aber auch einiges, worüber noch nicht so viel gesprochen und geschrieben wurde. Nicht zuletzt wegen dieser Neuerungen ist dieser Kurs auf Ihre Kritik und Ihre Anregungen angewiesen. Die juristische Methode, besonders der Gutachtenstil, kann hervorragend an einer FernUniversität studiert und eingeübt werden. Wir benötigen dafür aber besondere Formen, die wir nur in einer intensiven Zusammenarbeit entwickeln können.
C. Prämissen finden – Woher kommen die Voraussetzungen?
Jonas Keil / Katharina Gräfin von Schlieffen
Wie Sie mittlerweile wissen, besteht das juristische Arbeiten und das Lösen der Fälle zu einem wesentlichen Teil aus dem Auffinden, Diskutieren und Auswählen plausibler Prämissen.
I. Was ist eine Prämisse?
Dem Begriff der Prämisse begegnen Sie hauptsächlich in Schriften zur juristischen Arbeitstechnik und Methodenlehre. In der sonstigen juristischen Ausbildungsliteratur ist er eher ungebräuchlich. Dort wird zumeist spezifisch von „Tatbestandsvoraussetzungen“, „Meinungen“ oder „Definitionen“ gesprochen. Dabei handelt es sich zweifellos um Prämissen, der hier zugrunde gelegte Begriff der Prämisse ist jedoch noch umfassender.
Für unsere Zwecke verstehen wir unter einer Prämisse eine Aussage P, die eine andere Aussage – die Behauptung B – stützt bzw. aus der B folgt. Immer wenn eine Behauptung B juristisch geprüft oder begründet werden soll, suchen Sie nach einer Aussage P oder nach mehreren Aussagen P1–n, die B plausibel stützen bzw. aus denen B folgen könnte.
Beispiele:
Eine strafrechtliche Verurteilung B muss auf ein passendes Gesetz P gestützt werden bzw. aus einem passenden Gesetz folgen.
Ein Anspruch auf Kaufpreiszahlung B wird durch Gesetz P1, einen Vertrag P2 usw. begründet bzw. folgt aus diesen Voraussetzungen.
Die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Auslegung B gegen eine andere Auslegung ist mit dem Argument P zu begründen bzw. folgt aus dem Argument P.
Die Entscheidung für die herrschende Meinung B gegen eine Mindermeinung im Streit um die Definition eines Tatbestandsmerkmals stützt sich auf die Gründe P1, P2 und P3 bzw. ist aus diesen Gründen herzuleiten.
Der Justizsyllogismus stützt das Ergebnis B im Hauptschema auf wenigstens zwei Prämissen; im Nebenschema kommen noch weitere hinzu:
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Prämisse: Tatbestand erfüllt → Rechtsfolge
-
Prämisse: Sachverhalt – erfüllt Tatbestand
Ergebnis: Sachverhalt → Rechtsfolge
Die erste Prämisse stellt die abstrakte Rechtsregel oder einen Rechtssatz auf (z. B. ein Gesetz), die zweite Prämisse trifft die Feststellung, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der ersten Prämisse durch die konkreten Ereignisse des Sachverhalts erfüllt werden. Zur Unterscheidung kann man die erste Prämisse als Normprämisse und die zweite als Fallprämisse bezeichnen. Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem Auffinden bzw. Aufstellen der ersten, also der Normprämisse.
In der Logik und im Alltag unterscheidet man zwischen wahren und falschen Prämissen und zwischen wahren und falschen Schlüssen aus diesen Prämissen. Während die Logiker zu ihren Urteilen kommen, weil sie zuvor exakt bestimmt haben, wovon sie reden, kommen wir im Alltag zu unseren Wertungen, weil wir es gerade nicht so genau nehmen und uns häufig auf unser Gefühl verlassen. Juristen bemühen sich, ihre Entscheidungen sachlich zu treffen. Sie versuchen, ähnlich wie die Logiker, im Umfeld einer hergeleiteten Entscheidung ihren Gegenstand zu klären, aber wissen, dass ihnen das immer nur bis zu einem gewissen Grad gelingen kann. Deshalb enthalten sie sich absoluter Bewertungen.
In der Arbeitssituation wird jeder von einer „falschen“ Norm, einer „verkehrten“ Auslegung oder „richtigen“ Ansicht sprechen, im offiziellen Text vermeidet man diese absoluten Zuschreibungen. Insbesondere wenn es um Meinungsstreitigkeiten geht, denken Juristen nicht in den Kategorien „richtig“ oder „falsch“, sondern verwenden Wertungen wie „vertretbar“, „überzeugend“, „kaum noch vertretbar“ und äußerstenfalls: „unvertretbar“. Letztlich ist dem Praktiker stets bewusst, dass juristische Arbeit nicht in ein Rechenheft passt, sondern wirkliche Rechtskonflikte lösen muss, und zwar so, dass die Lösung Anerkennung findet oder wenigstens keine Störung verursacht.
Um dies zu erreichen, werden die herangezogenen Prämissen regelmäßig solche sein, die ebenfalls anerkannt sind. Zumindest sollten sie bei der üblichen Plausibilitätskontrolle keinen Widerstand hervorrufen. Am besten ist es, wenn eine Prämisse jedem Adressaten sofort einleuchtet, wie z. B. ein allgemeines Denkgesetz.
Beispiel:
Hierzu zählt der Satz vom Widerspruch, nach dem es unmöglich ist, derselben Aussage zuzustimmen und sie zugleich zu verneinen, weshalb etwa der BGH urteilt: „Ein Richter, der die Unvertretbarkeit seiner Entscheidung kennt oder billigend in Kauf nimmt, kann nicht zugleich ‚überzeugt‘ von ihrer Richtigkeit sein.“
Zentral ist auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten („tertium non datur“). Er besagt vereinfacht: Entweder gilt eine Aussage („Der Anspruch besteht“) oder es gilt ihr Gegenteil („Der Anspruch besteht nicht“); eine dritte Möglichkeit – etwas Mittleres – ist ausgeschlossen.
Mit dem „Satz vom zureichenden Grund“ setzen wir voraus, dass es in der Welt der Tatsachen für jedes Ereignis eine Ursache geben muss. Im Bereich des Rechts steht der Satz vom zureichenden Grund für das Begründungsgebot: Eine Aussage gilt, wenn man sie mit einer anderen geltenden Aussage begründen kann. Steht die Geltung der begründenden Aussage in Frage, muss sie ihrerseits begründet werden. Ein Verstoß gegen diesen Satz liegt vor, wenn es sich bei der Behauptung und der Begründung um dieselbe Aussage handelt oder die Begründung die Behauptung voraussetzt (Zirkelschluss oder petitio principii).
Einleuchtende Prämissen enthalten allerdings nicht unbedingt Aussagen, die uneingeschränkt gelten.
Beispiele:
Argumentum a minori ad maius – „Was für das Kleinere gilt, gilt erst recht für das Größere“, z. B.: Wenn 120 km/h zu schnell sind, sind erst recht 160 km/h zu schnell. Die Prämisse „Vom Kleineren zum Größeren“ taugt aber nur begrenzt. Wenn z. B. der K einen Anspruch haben könnte, kann man nicht argumentieren: Wenn V dem K eine Goldmünze schuldet, schuldet er ihm erst recht zwei.
Argumentum a maiori ad minus – „Was für das Größere gilt, gilt erst recht für das Kleinere“. Diese Prämisse scheint einen größeren Anwendungsbereich zu haben, z. B.: Wenn K Mieter einer Wohnung ist, hat er auch das Recht, sich dort aufzuhalten. – Was aber ist z. B. mit dem Recht des Schuldners, statt der ganzen Leistung nur einen Teil zu erbringen?
Aussagen sind vor allem dann prämissentauglich, wenn sie unmittelbar von einer anerkannten Instanz stammen. An erster Stelle steht der legitimierte Normgeber, also innerhalb Deutschlands der demokratisch legitimierte Gesetzgeber. Damit gehen die gewichtigsten Prämissen auf Gesetze oder andere verfahrensmäßige Rechtsnormen zurück. Aber auch die Entscheidungen, die Leitsätze, tragenden Gründe, manchmal sogar die obiter dicta der obersten Gerichte sind in hohem Maße prämissengeeignet. Hinzu kommen die hergebrachten und anerkannten Lehrsätze der Rechtsdogmatik, Aussagen von anderen autorisierten Stellen, Erkenntnisse der Naturwissenschaften oder allgemeines Erfahrungswissen, das je nach Kontext als anerkennenswert angesehen wird.
Die Plausibilität der Prämissen wird freilich nicht allein durch die Qualität der Quelle und die Autorität ihrer Urheber bestimmt. So müssen die Arbeitsergebnisse der staatlichen Rechtsanwender dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit genügen. Deshalb müssen sie ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit aufweisen. Dies kann nur gewährleistet werden, wenn einerseits die bereits anerkannten Prämissen ausreichend übersichtlich geordnet sind und andererseits die Suche nach den Prämissen systematisch, also auf zuvor festgelegten Wegen, stattfindet. Dafür ist zwar kein umfassendes logisches System im Sinne einer Begriffspyramide und eines vollständig bestimmten Verfahrens erforderlich, aber doch umfassende Kataloge mit Ober- und Untergriffen, bei denen man wie an Sammelstellen die einschlägigen Prämissen ablegen und finden kann, ggf. um von dort zu weiteren Prämissen zu gelangen.
Zu den weiteren Erfordernissen kommt das Erfordernis der öffentlichen Akzeptanz, die zwar nicht im Routinebetrieb abgefragt wird, aber umso mehr bei richtungsweisenden Einzelfällen über die Darstellung des Rechts und der Rechtsanwendung im Außenverhältnis entscheidet. Deshalb sollte trotz der überwiegend fachlichen Bestimmung einer Falllösung nie die Sachgerechtigkeit aus dem Auge verloren werden.
In der Rhetorik werden übrigens Prämissen aus derart überzeugenden, allgemein gefassten Aussagen als Endoxa bezeichnet.
II. In welchen Formen treten juristische (Norm-)Prämissen auf?
Denkt man an den Ausgangspunkt juristischen Begründens, fällt einem zwangsläufig „das Gesetz“ ein. Der Begriff ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt, da „Gesetz“ – streng juristisch gesehen – sehr unpräzise ist und diverse Unterkategorien aufweist. Für den Zweck dieses Abschnitts können unter „Gesetz“ jedoch zur Vereinfachung alle Rechtsnormen verstanden werden, die durch die Legislative im förmlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden.
Entgegen der allgemein verbreiteten Vorstellung erschöpft sich der Fundus juristischer Prämissen jedoch nicht in den Paragrafen, die in Gesetzbüchern, Rechtsverordnungen oder Satzungen niedergelegt sind. Aus dem Gesetz entlehnte Prämissen bilden vielmehr nur einen – wenn auch im demokratischen Rechtsstaat den wichtigsten – Teil juristischer Argumentationsgrundlagen. Im Schema des Justizsyllogismus liefern sie daher zumeist die Ausgangsprämisse des Obersatzes.
Beispiel: A könnte einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 100 EUR gemäß § 433 Abs. 2 BGB gegen B haben.
Aus den jeweils zitierten Vorschriften werden sodann die Tatbestandsvoraussetzungen entnommen, die als Prämisse, also Voraussetzung, für die Begründung einer gesetzlich vorgegebenen Rechtsfolge herangezogen werden.
Beispiel: A könnte einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 100 EUR gemäß § 433 Abs. 2 BGB gegen B haben.
[Voraussetzung = Zu prüfende Prämisse:] Dafür müsste zwischen A und B ein Kaufvertrag zustande gekommen sein.
Oder:
Beispiel: Der A könnte sich gemäß § 303 Abs. 1 StGB wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht haben, indem er den Apfelbaum im Garten des B fällte.
[Voraussetzung = Zu prüfende Prämisse:] Dazu müsste es sich bei dem Apfelbaum um eine Sache handeln.
[Definition] [Subsumtion] [Zwischenergebnis]
[Voraussetzung = Zu prüfende Prämisse:] Weiterhin müsste der Baum für den A fremd gewesen sein.
[Definition] [Subsumtion] [Zwischenergebnis] usw.
Ein Ihnen ebenfalls bekannter Typus der juristischen Prämisse sind die Definitionen, welche man unter die Oberkategorie „juristische Lehrsätze“ (ausgenommen Legaldefinitionen) fassen kann, werden sie doch zum ganz überwiegenden Teil von Rechtsprechung und Lehre entwickelt. Definitionen ergeben sich als zwangsläufige Folge aus der Existenz der abstrakten und teilweise bewusst „weit gefassten“ Tatbestandsmerkmale der Gesetzesnormen.
Weitere im Rahmen juristischen Arbeitens typischerweise herangezogene Prämissen sind beispielsweise Leitsätze gerichtlicher Entscheidungen, im Rahmen von Gesetzesauslegung gewonnene Prämissen, juristische Lehrsätze, das Gewohnheitsrecht und durchaus auch Lehr- und Erfahrungssätze aus dem nichtjuristischen Alltag. Diese Liste ist keinesfalls abschließend.
III. Prämissensuche
Aber wie kommen Juristen bei dieser Vielzahl von Ansatzpunkten zu einer effizienten Arbeitsweise, mit der innerhalb eines begrenzten Zeitraums – in der Klausur kann dieser wenige Stunden, in einer Gerichtsverhandlung sogar nur Sekunden betragen – eine vertretbare Lösung der vorgelegten Rechtsprobleme produziert werden kann? Dies ist nur mit einer über Jahre hinweg antrainierten systematischen Vorgehensweise bei der Prämissensuche, einem Grundverständnis typischer juristischer Argumentationsmuster und letztendlich dem schlichten Auswendiglernen regelmäßig gebrauchter Prämissen bzw. der Verinnerlichung der „Sammelstellen“, an denen anerkannte Prämissen abgefragt werden können, möglich. Diese Prämissensammelstellen sind Dreh- und Angelpunkt des rechtswissenschaftlichen Studiums und der Rechtsanwendungspraxis. Mit ihnen werden wir uns im Folgenden zuerst beschäftigen.
Wie bereits bemerkt, wählen Juristen die von ihnen zur Begründung herangezogenen Prämissen nicht willkürlich aus, sondern müssen sie auf nachvollziehbaren und strukturierten Wegen auffinden. Hierfür werden verschiedene Prämissensammelstellen systematisch abgefragt. In der Rhetorik bezeichnet man so eine Stelle als Topos (Ort / Plural: Topoi).
Ein Topos ist zum Beispiel der Gleichbehandlungsgrundsatz („Gleiches muss gleich und Ungleiches muss ungleich behandelt werden“). Unter diesem Oberbegriff, auch formaler Topos genannt, findet man konkretere Aussagen – sog. materiale Topoi –, die sich als Prämissen für die jeweilige juristische Begründung eignen könnten.
Beispiele für materiale Topoi:
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„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Art. 3 Abs. 1 GG)
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„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG)
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„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in … gleicher … Wahl gewählt.“ (Art. 38 Abs. 1 GG)
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„Inhaber von Wertpapieren der Zielgesellschaft, die derselben Gattung angehören, sind gleich zu behandeln.“ (§ 3 Abs. 1 WpÜG)
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„In Bezug auf soziale Vergünstigungen darf niemand aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden.“ (§§ 1 i. V. m. 2 Abs. 1 Nr. 6 AGG)
Der (formale) Topos hilft zum einen, die gesuchte Prämisse aufzufinden oder einzuordnen. Zum anderen handelt es sich um ein Kreativitätsschema. Wenn man die konkrete Prämisse nicht kennt oder neu bilden muss, kann man aus dem Vergleich mit den anderen, bereits zusammengefassten Prämissen und dem Blick auf den Topos nachvollziehbar eine passende Prämisse für den neuen Fall gewinnen.
IV. Prämissensammelstellen – „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“
Ein unter Juristen gebräuchlicher Ausspruch lautet: „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.“ Ob man diesem Satz bei näherem Hinsehen in allen seinen Implikationen uneingeschränkt zustimmen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls gibt der zitierte Satz einen wesentlichen Gedanken zutreffend wieder: der Ausgangspunkt der juristischen Prämissensuche ist im Ideal- und vielleicht sogar im Regelfall der Gesetzestext.
1. Gesetzestexte, Normen, Paragrafen
Gesetzestexte können völlig unterschiedlich strukturiert sein und ihr Aufbau folgt keinem „logischen“ System, dennoch gibt es wiederkehrende Strukturmerkmale, die – soweit man sie kennt und verstanden hat – die Prämissensuche stark vereinfachen können. Im Studium werden Sie es größtenteils mit Gesetzen zu tun bekommen, die Ihnen durch die Schriftkurse und die Klausurvorbereitung einigermaßen bekannt sein sollten. Auch nach einem jahrelangen Jurastudium kennt allerdings niemand die über 2000 Paragrafen des BGB auswendig, was im Hinblick auf die zeitliche Kosten-Nutzen-Rechnung auch kaum erstrebenswert wäre. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass das BGB nur eines von unzähligen Gesetzen im deutschen Rechtsraum ist. Entgegen dem weitverbreiteten Klischee gehört das Auswendiglernen dicker Gesetzbücher daher weder im Studium noch in der Praxis zum Tätigkeitsprofil eines Juristen.
Die Verinnerlichung wiederkehrender Strukturmerkmale ist für die juristische Arbeit hingegen unverzichtbar. Gesetzbücher lassen sich zumeist inhaltlich einem Rechtsgebiet bzw. einer bestimmten tatsächlichen Regelungsmaterie zuordnen. Das BGB wird beispielsweise dem Rechtsgebiet „Zivilrecht“ zugeschlagen und seine Vorschriften regeln – teilweise allgemein, teilweise sehr speziell – die Rechtsbeziehungen natürlicher und juristischer Personen, welche einander rechtlich gleichgeordnet sind. Insoweit lässt es sich auf den ersten Blick relativ problemlos einer Kategorie zuordnen und müsste sich demnach entsprechend deutlich als Prämissensammelstelle für bestimmte Sachverhaltskonstellationen „aufdrängen“.
a) Das Inhaltsverzeichnis
Geht man davon aus, dass der Bearbeiter eines Rechtsproblems das BGB erstmalig und juristisch völlig unbefangen in der Hoffnung zur Hand nimmt, einschlägige Paragrafen zur Lösung seines Rechtsproblems darin zu finden, dann wäre der erste Ansatzpunkt einer strukturierten Suche wohl das Inhaltsverzeichnis. Ein kurzer Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass das BGB aufwendig in Bücher, Abschnitte, Titel und Untertitel gegliedert ist.
Beispiel: Wenn A dem B sein Fahrrad für einen Preis von 100 EUR verkauft hat und nunmehr von B Zahlung verlangt, liegt nach dem eben Gesagten ein Blick in das BGB nahe, denn hier regeln zwei natürliche Personen auf der Ebene rechtlicher Gleichordnung ihre rechtlichen Beziehungen. Wirft man einen Blick in das Inhaltsverzeichnis des BGB, so findet man problemlos das 2. Buch des BGB, dort den Abschnitt 8, Titel 1, der mit den Worten „Kauf und Tausch“ überschrieben ist. Dessen erster Paragraf, § 433, enthält in Abs. 2 die einschlägige Vorschrift. Das Inhaltsverzeichnis hat hier also dabei geholfen, die Prämisse „Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen […]“ aufzufinden.
Abwandlung: Modifiziert man den Sachverhalt dahingehend, dass der B das Fahrrad nicht für sich selbst, sondern für sein gemeinsam mit C betriebenes Fahrradgeschäft „BC Bikes – Fahrradfachhandel“ erwirbt, und möchte A nun nicht mehr vom B, sondern von C Zahlung verlangen, kann das BGB bereits nicht mehr alle potentiell einschlägigen gesetzlichen Prämissen liefern. Zwar könnten für die Rechtsfrage auf den ersten Blick die Vorschriften über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), §§ 705 ff. BGB, passende Prämissen liefern. Aus § 705 BGB ergibt sich zunächst die Prämisse, dass eine GbR immer dann besteht, wenn sich mehrere Personen zur Förderung eines gemeinsamen Zwecks zusammenschließen. Ohne die einzelnen Tatbestandsmerkmale hier genau „abzuprüfen“, also zu subsumieren, dürfte schnell klar sein, dass die Wesensmerkmale für das Fahrradgeschäft von B und C erfüllt sein dürften. Der „BC Bikes – Fahrradfachhandel“ könnte aber auch eine offene Handelsgesellschaft (OHG) sein, welche sich als Spezialfall der GbR dadurch auszeichnet, dass der von den Gesellschaftern verfolgte Zweck im Betreiben eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma liegt. Die OHG ist in den §§ 105 ff. des Handelsgesetzbuches (HGB) – also außerhalb des BGB – geregelt.
An diesem Beispiel können Sie sehen, dass die meisten Gesetzbücher bestimmte Inhalte nur fragmentarisch regeln und die Aufspaltung eines Themenbereichs in unterschiedliche Gesetzestexte nicht einem zwingend schlüssigen System folgt, sondern vielmehr einer vom Gesetzgeber nach mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Oberbegriffen (Topoi) gegliederten Ordnung. Es wäre ja auch möglich gewesen, beide Regelungskomplexe beispielsweise unter den Topoi „Zivilrecht“ oder „Gesellschaftsrecht“ – da GbR und OHG (Personen-)Gesellschaften sind – in einem Gesetzbuch zusammenzufassen. Hier hat sich der Gesetzgeber jedoch dafür entschieden, die OHG dem Topos „Handelsrecht“ unterzuordnen, was ebenfalls plausibel ist, schließlich ist der Gesellschaftszweck der OHG der Betrieb eines Handelsgewerbes.
Sowohl für die §§ 705 ff. BGB als auch für die §§ 105 ff. HGB gilt: Kaum jemand dürfte diese Paragrafen anhand des Inhaltsverzeichnisses des BGB ausfindig machen können. Mit anderen Worten: dem juristisch Ahnungslosen würde der aufwendig strukturierte Inhalt des BGB regelmäßig nicht weiterhelfen, da weder eine Vorstellung darüber besteht, was unter einer „Gesellschaft“ zu verstehen ist, noch darüber, dass es ein über das BGB hinausgehendes zivilrechtliches Rechtsgebiet „Handelsrecht“ gibt. Außerdem würde man ohne Vorwissen wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kommen, allein mit den Informationen aus dem geschilderten Sachverhalt nach Regelungen über eine (Personen-)Gesellschaft – geschweige denn über eine Handelsgesellschaft – zu suchen. Auch die Grundeinteilung des BGB, die oft als erste Orientierung empfohlen wird, erschließt sich ohne Vorkenntnisse nur schwerlich, da keinesfalls selbsterklärend ist, was sich konkret hinter dem „Sachenrecht“ oder dem Recht der „Schuldverhältnisse“ verbirgt. Um die einschlägige gesetzliche Prämisse zu finden, benötigen Sie deshalb zumeist eine grundlegende Vorstellung über das Rechtsinstitut oder das rechtliche System, das Lehre und Rechtsprechung in Bezug auf das Gesetz entwickelt haben.
Natürlich sind nicht alle Gesetzbücher derart umfangreich wie das BGB und manche Inhaltsverzeichnisse lassen sich auch mit alltagssprachlichen Kenntnissen vergleichsweise gut erschließen (vgl. bspw. das StGB).
Erkenntnisse:
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Gesetze sind zwar häufig (teil-)strukturiert, man kann sich jedoch nicht darauf verlassen, dass diese Struktur eine Regelungsmaterie abschließend erfasst.
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Ohne Vorwissen ist die gesetzliche Struktur häufig nur eingeschränkt hilfreich, da man entweder nicht weiß, was man genau sucht bzw. keine Vorstellung über die exakte Bedeutung der verwendeten Terminologie hat. Gerade deshalb ist es wichtig, sich die im Studium gängigen Gesetze regelmäßig zur Hand zu nehmen und jede Norm nachzuschlagen, die etwa in einer Falllösung oder einem Lehrbuch auftaucht. Sehen Sie sich ebenfalls die Inhaltsverzeichnisse an, damit bereits vor der Klausur eine gewisse Grundvorstellung darüber besteht, wo ungefähr welche Regelungen aufzufinden sind.
Sie sehen also: um in der Klausur unter heftigem Zeitdruck effizient arbeiten zu können, bedarf es einer beachtlichen Menge juristischen Vorwissens. Die anfänglich eingetretene Erleichterung über die Erkenntnis, dass Juristen keine Gesetzestexte auswendig lernen müssen, wird hierdurch natürlich deutlich relativiert. Gelernt werden muss erstens, wie man anhand der regelmäßig wiederkehrenden Strukturen die Prämissensuche vereinfachen kann, und zweitens, wie man den für „einschlägig“ gehaltenen Paragrafen die gesuchten Prämissen entnehmen kann. Hinzu kommt ein dritter Punkt. Wenn Sie endlich eine gesetzliche Prämisse gefunden haben, ist noch keineswegs klar, wie diese zu lesen, zu verstehen und im Zweifel auszulegen ist. Dies hängt mit einem hochumstrittenen rechtsmethodischen bzw. rechtstheoretischen oder -philosophischen Problem zusammen, das wir jedoch an anderer Stelle diskutieren müssen. Häufig wird dieses Thema unter dem Begriff „Gesetzesinterpretation“ behandelt, wobei es aber um mehr als die Frage geht, wie der Jurist eine Norm bei Unklarheiten richtig auslegt und wie er die sog. canones anwendet. Vielmehr ist darüber nachzudenken, wie das Gesetz – ein Text – den Rechtsanwender überhaupt bestimmt oder bestimmen kann oder bestimmen soll, sich für eine Rechtsfolge zu entscheiden – zunächst wieder ein Text. Wie liest und versteht der Jurist die Norm? Wie soll er sie verstehen? Möglichst so, dass er dem Willen des historischen, demokratisch legitimierten Gesetzgebers folgt („subjektiv“)? Oder so, wie das Gesetz vom heutigen Standpunkt aus zu verstehen ist („objektiv“)? Das BVerfG vertritt die sog. objektive Sicht. „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist“. Damit gehört zum Verständnis eines jeden Gesetzes seine jeweils aktuelle Lesart. Wenn Sie zum Beispiel ein passendes Gesetz suchen, reicht es nicht, dass Sie die Normen so verstehen, wie Sie sie lesen. Vielmehr müssen Sie noch die gegenwärtige Auslegung der Norm berücksichtigen, durch die der „objektivierte“ Sinn zum Ausdruck kommt.
Beispiel: Wie liest man und wie versteht man in einem Straftatbestand den Begriff der „Gewalt“? Das Wort erscheint in 27 Paragraphen des StGB, dabei ist, wie etwa eine Untersuchung von Busse ergibt, „weder die Verwendung im Gesetzestext“ noch gar „die jeweilige Auslegung des Begriffs an den verschiedenen Stellen“ gleich. Seit Bestehen des StGB hat sich die Begriffsbedeutung in mehreren Schüben geändert. Im Sinne einer zunehmenden „Vergeistigung“ der Begriffsbedeutung wurde Gewalt zunächst wie im Alltag als „Anwendung körperlicher Kraft“ verstanden. In einer zweiten Phase begriff man sie als „körperliche Zwangswirkung beim Opfer“, und schließlich – unter Aufgabe des körperlichen Moments – auch als psychischen Zwang. Um zu entscheiden, ob eine Norm passt oder nicht, sollten Sie also vorweg wissen, wie sie im jeweiligen juristischen Kontext anerkanntermaßen zu lesen ist. Zumindest müssen Sie das gängige „Interpretationsspektrum“ kennen, welches den Kreis der für vertretbar angesehenen Prämissen von vornherein einschränkt.
b) Weitere Strukturmerkmale
Neben einem Inhaltsverzeichnis weisen die meisten Gesetzbücher noch weitere wiederkehrende Strukturmerkmale auf.
aa) Formelles und materielles Recht
Beispielsweise kann man neben der Regelungsmaterie des Gesetzes, die häufig bereits aus dessen Namen hervorgeht, eine Einteilung nach inhaltlichen und prozessualen Vorschriften vornehmen. Fachsprachlich bezeichnet man diese Kategorien als „materielles“ und „formelles“ Recht. Eine materielle Vorschrift wäre beispielsweise der mittlerweile bekannte § 433 Abs. 2 BGB, der regelt, ob A vom B Zahlung verlangen kann, wohingegen in der Zivilprozessordnung (ZPO) festgelegt ist, wie der A seinen Anspruch möglicherweise gerichtlich durchsetzen könnte (formelles Recht).
bb) Allgemeiner und Besonderer Teil
Eine andere Regelungstechnik ist die Aufteilung von Rechtsgebieten in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil. Diese Unterteilung findet sich sowohl innerhalb von Gesetzbüchern, aber auch in der Form, dass ganze Gesetzbücher ausschließlich den Allgemeinen Teil eines Rechtsgebiets behandeln. Im Allgemeinen Teil eines Rechtsgebiets wird das Grundlegende, das Allgemeingültige geregelt. Juristen benutzen in diesem Zusammenhang gerne eine aus der Mathematik entlehnte Figur: Der Allgemeine Teil enthält die Regelungen, die man vor die Klammer ziehen kann. Zwischen den Klammern soll sich der Besondere Teil finden, dessen gemeinsamer Inhalt bereits der Allgemeine Teil geregelt hat. Konkret: dass ein Vertrag durch zwei Willenserklärungen – Angebot und Annahme – zustande kommt (§§ 145 ff. BGB), ist im Allgemeinen Teil des BGB geregelt und gilt daher sowohl für Kauf-, Werk-, Dienst-, Darlehensvertrag als auch alle anderen, im „Besonderen Teil“ des BGB behandelten Vertragstypen. Hingegen gilt die werkvertragliche Abnahmepflicht (vgl. § 640 BGB) als Regelung des Besonderen Teils nur für Werk- und nicht etwa für Dienstverträge. Die Differenzierung in allgemeine und spezielle („besondere“) Abschnitte eines Rechtsgebiets erlaubt zwar eine gewisse Orientierung, wird aber ohne Vorkenntnisse in dem fraglichen Rechtsgebiet und vor allem unter dem immensen Zeitdruck einer Klausursituation im Regelfall nicht ausreichen, um alle „abzuprüfenden“ Vorschriften aufzufinden, zu lesen und zu verstehen.
cc) Regelungszusammenhänge
Ganz überwiegend sind Gesetzbücher jedoch auch thematisch nach Regelungszusammenhängen gegliedert, d. h. inhaltlich zusammengehörende Normen stehen auch häufig in einem text-räumlichen Zusammenhang. Daher ist es unverzichtbar, bei der Arbeit mit Gesetzestexten, die man nur flüchtig kennt oder die einem ganz neu sind, auch die benachbarten Normen der für einschlägig gehaltenen Vorschrift zu lesen. Hierfür hat sich die Faustregel „Fünf vor, fünf zurück“ herausgebildet. Das bedeutet nichts anderes, als dass Sie die vorherigen fünf und die nachfolgenden fünf Vorschriften lesen sollen, zwischen denen sich die von Ihnen soeben aufgefundene und für einschlägig gehaltene Vorschrift befindet.
Beispiel: Hat man im BGB die Vorschrift des § 108 aufgefunden, um die Frage zu beantworten, ob der zehnjährige A wirksam einen Kaufvertrag über die Packung Kaugummis schließen kann, die er von seinem Taschengeld bezahlen möchte, könnte man denken, dass dies nur mit der Einwilligung bzw. Genehmigung seiner Eltern möglich ist. Liest man jedoch zwei Vorschriften weiter, stößt man auf § 110 BGB, der eine Ausnahme zu den Grundsätzen des § 108 BGB enthält. Offensichtlich ist diese Faustregel für die Klausur oder andere Stresssituationen erfunden worden und bietet keine Gewähr dafür, alle relevanten Vorschriften aufzufinden. Für die spätere Berufspraxis taugt sie nur bedingt. Dennoch erzielt man mit ihr erfahrungsgemäß bei der Arbeit mit unbekannten Gesetzestexten eine hohe Trefferquote.
dd) Die Arbeit mit Gesetzessammlungen
Neben den einzelnen Gesetzestexten, wie sie beispielsweise vom dtv-Verlag herausgegeben werden, arbeiten fortgeschrittene Studierende und Volljuristen ganz überwiegend mit Gesetzessammlungen. Diese erscheinen in verschiedenen Verlagen. Die gängigsten, und wohl auch eins der klassischen Erkennungszeichen fortgeschrittener Studierender, sind die roten „Wälzer“ vom C.H. Beck-Verlag. Für Sie sind aus dieser Reihe zum einen der „Schönfelder“ (für das Zivilrecht und das Strafrecht) und der „Sartorius“ (Öffentliches Recht) relevant. Diese Gesetzessammlungen enthalten umfangreiche Stichwortverzeichnisse, die bei der Prämissensuche sehr hilfreich sein können. In Juristenkreisen zwar häufig als „Idiotenwiese“ verspottet, bietet das Stichwort- oder Sachverzeichnis eine gute Alternative bei akuter Ideenlosigkeit. Gegenüber Inhaltsverzeichnissen gibt es einen entscheidenden Vorteil: im Stichwortverzeichnis werden auch Stichworte gelistet, die nicht wortwörtlich im Gesetz stehen. Im Gegensatz zum Inhaltsverzeichnis können demnach auch Normen ohne Kenntnis des genauen Gesetzeswortlauts aufgefunden werden.
Beispiel: Der eben angesprochene § 110 BGB, der Rechtsgeschäfte Minderjähriger ausnahmsweise unmittelbar wirksam werden lässt, soweit diese mit eigenen Mitteln finanziert sind, ist allgemein als der „Taschengeldparagraf“ bekannt. Der Begriff „Taschengeld“ kommt jedoch im Gesetzeswortlaut nicht vor. Wirft man allerdings einen Blick in das Stichwortverzeichnis des Schönfelders, findet man unter „Taschengeld“ einen Verweis auf § 110 BGB.
2. Lehre und Rechtsprechung
Wie bereits angedeutet, können nicht alle für eine Falllösung relevanten Prämissen dem Gesetz unmittelbar entnommen werden. Aufgrund der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Bindung von Judikative und Exekutive an „Gesetz und Recht“ müssen jedoch alle wesentlichen Entscheidungen durch die Legislative vorgegeben und dementsprechend auch alle von Ihnen zur Fallbearbeitung herangezogenen Prämissen unmittelbar oder mittelbar auf von der Legislative erlassene Gesetze zurückzuführen sein. Ob es aus rechtstheoretischer Sicht tatsächlich gültige Rechtsprämissen gibt, die außerhalb des Gesetzes stehen, ist hoch umstritten. Mit dieser Frage müssen Sie sich an dieser Stelle jedoch noch nicht vertieft auseinandersetzen, da jedenfalls sicher ist, dass sich selten alle zur Bearbeitung komplexer Fälle erforderlichen Prämissen durch unbefangenes Lesen des Gesetzestextes auffinden lassen. In dieser Situation greifen Juristen regelmäßig auf Prämissen zurück, die von Lehre und Rechtsprechung herausgearbeitet wurden. Trotz rechtstheoretischer Bedenken kann man diese Prämissen zur Veranschaulichung des Suchprozesses auch als Prämissen „außerhalb des Gesetzes“ bezeichnen.
a) Die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale
Ein Beispiel für Prämissen, welche dem Gesetz „entnommen“ werden, obwohl sie in seinem Wortlaut nicht auftauchen, sind die sog. „ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale“.
Beispiel: § 263 Abs. 1 StGB (Betrug) hat folgenden Wortlaut: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher […] Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Nach genauem Lesen kann man der Vorschrift mit der Wenn-Dann-Methode folgende Tatbestandsmerkmale entnehmen: Vorspiegelung falscher Tatsachen; dadurch Erregung eines Irrtums; dadurch Vermögensschaden eines anderen verursacht; Handeln in der Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Die ganz herrschende Meinung geht allerdings davon aus, dass zusätzlich noch das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „Vermögensverfügung“ Voraussetzung für die Erfüllung des Betrugstatbestands ist. Nach allgemeiner Auffassung kann der Betrug nur durch diese Ergänzung vom Diebstahl abgegrenzt werden. Selbst wenn einem diese Erkenntnis nach jahrelangem intensiven Studium des StGB auch selbst kommen sollte, kann man wohl mit Sicherheit sagen, dass sich die Existenz dieses Merkmals kaum beim ersten, zweiten oder dritten Lesen – und sei es auch noch so sorgfältig – „dem Gesetz entnehmen“ lässt. Dennoch ist man sich in Fachkreisen einig darüber, dass es sich aus der „Gesetzessystematik“ ergibt.
b) Definitionen
Das praktisch wichtigste Beispiel für Prämissen, die zwar nicht ausdrücklich im Gesetz stehen, aber dennoch für die Rechtsanwendung unverzichtbar sind, sind Definitionen. Obwohl man diese nach dem vorherrschenden methodischen Verständnis zwar dem Gesetz durch Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden „entnimmt“, bedeutet dies für Sie in der Klausursituation faktisch in den meisten Fällen dennoch, dass Sie die einschlägigen Definitionen vorher bereits kennen müssen. Erstens fehlt Ihnen für eine umfassende Auslegung und kritische Beleuchtung Ihres Auslegungsergebnisses die Zeit und zweitens werden bei der Mehrzahl der Klausuren Rechtsnormen zu prüfen sein, bei denen der Korrektor erwartet, dass sowohl die Norm selbst als auch die dazugehörigen – in Rechtsprechung und Lehre allgemein anerkannten – Definitionen bekannt sind. Eine eigene Definition würde an dieser Stelle als Zeichen für unzureichende Klausurvorbereitung gewertet.
c) Sätze der Rechtsprechung
Wie bereits mehrfach angeklungen, macht die konkrete inhaltliche Ausformung der gesetzlichen Tatbestände durch die Rechtsprechung einen wesentlichen Teil des Bestands juristischer Prämissen aus. Im deutschen Rechtssystem kommt einer Gerichtsentscheidung grundsätzlich nur Wirkung inter partes zu, also zwischen den am Rechtsstreit beteiligten Parteien. Dies ergibt sich bereits aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz, der allgemeinverbindliche Regelungen dem Gesetzgeber vorbehält. Dennoch hat die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung in der praktischen Rechtsanwendung einen derart hohen Stellenwert, dass sie faktisch Bindungswirkung entfaltet. Dies liegt daran, dass die unteren Gerichte regelmäßig wenig Sinn darin sehen, gegen die ständige Rechtsprechung höherer Instanzen zu entscheiden, da die Urteile mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgehoben würden. Selbstverständlich gibt es trotzdem immer wieder untere Gerichte, die abweichend entscheiden und teilweise dadurch auch Rechtsprechungsänderungen bei den obersten Gerichten anstoßen. Gerade im Studium unterliegen Sie noch nicht dem „Zwang des Faktischen“, weshalb von Ihnen erwartet wird, dass Sie höchstrichterliche Rechtsprechung genauso kritisch betrachten wie die Rechtsmeinungen anderer anerkannter Stellen, beispielsweise der akademischen Lehre. Deren Vertreter befassen sich in Lehrbüchern, Aufsätzen, Kommentaren und anderen Fachpublikationen mit der Lösung von Rechtsproblemen und hinterfragen dabei sowohl die Rechtsprechung als auch andere Lehrmeinungen. Im Abschnitt über den Meinungsstreit haben Sie gelernt, dass aus diesen unterschiedlichen Rechtsansichten eine Fülle an Prämissen hervorgeht, die bewertet und untereinander abgewogen werden müssen. Dies ist einer der Kernbereiche juristischer Arbeit.
Rechtsprechung und die aus ihr hervorgehenden Rechtsprämissen werden an unterschiedlichsten Stellen veröffentlicht und katalogisiert. Die klassische Veröffentlichungsform sind die Entscheidungssammlungen oberster Gerichte, die Ihnen in den Fußnoten von Lehrbüchern, Aufsätzen oder anderen Fachtexten vielleicht schon einmal als Fundstelle begegnet sind. Hierin werden allerdings nicht alle, sondern nur die für besonders wichtig gehaltenen Entscheidungen veröffentlicht. Die zahlreichen juristischen Fachzeitschriften publizieren ebenfalls die aktuelle Rechtsprechung. Die wichtigsten Quellen bei der Rechtsprechungsrecherche dürften jedoch heutzutage Onlineportale wie juris.de oder beck-online.de sein. Diese führen umfassende digitale Rechtsprechungsarchive, welche sich nicht auf höchstrichterliche Entscheidungen beschränken, sondern auch Entscheidungen von Amts- und Verwaltungsgerichten vorhalten. Auch die Gerichte selbst bieten teilweise Online-Entscheidungsarchive an.
Exkurs: Richterliche Rechtsfortbildung
Zu den Sätzen der Rechtsprechung zählen auch die Ergebnisse richterlicher Rechtsfortbildung, beispielsweise durch Analogieschlüsse, die ja gerade eine „Lücke“ im Gesetz zur Voraussetzung haben. Da im Rechtsstaat die Gerichte zur Rechtsgewährung verpflichtet sind, also ein Entscheidungszwang besteht, ist die Richterschaft auch unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt und verpflichtet, Lücken im Gesetz durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen. Üblicherweise werden in diesem Zusammenhang die Analogie mit ihren Unterformen und die teleologische Extension bzw. Reduktion genannt. Ob und wie man die richterliche Rechtsfortbildung von der Auslegung abgrenzen kann, ist höchst umstritten, spielt aber im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, da die von der Rechtsprechung gewonnenen Prämissen – unabhängig von ihrer methodischen Kategorisierung – in der Rechtsanwendung jedenfalls diskutiert werden müssen und somit zu den Prämissen gehören, die im Rahmen Ihrer universitären Arbeiten relevant sind und daher aufgefunden und/oder gelernt werden müssen.
d) Prüfungs- und Aufbauschemata
Zur Ordnung und nachvollziehbaren Suche werden Prämissensammelstellen (Topoi) in Katalogen geordnet. Je gelehrter und wissenschaftlicher eine Disziplin ist, umso feiner werden Systematik und Abstraktionsgrad der obersten Begriffe. Die für Studierende und auch für die juristische Praxis unverzichtbaren Topoikataloge sind die sogenannten Prüfungs- oder auch Aufbauschemata. Ihnen dürfte mittlerweile klar geworden sein, dass bei der Fülle an Gesetzestexten, deren stark variierender sprachlicher Eingängigkeit und der rechtswissenschaftlichen Fortentwicklung durch Auslegung, Interpretation und Rechtsfortbildung ein zeitlich effizientes Arbeiten unmöglich wäre, wenn man jede Vorschrift, die einem zum ersten Mal begegnet, auf alle in ihr enthaltenen bzw. aus ihr hergeleiteten Prämissen untersuchen müsste. Nicht nur das: darüber hinaus muss man sich ebenfalls die Prüfungsreihenfolge, Abhängigkeiten der einzelnen Tatbestandsmerkmale untereinander und eventuelle Ausnahme- oder Spezialvorschriften aus anderen Gesetzen erschließen. Insbesondere für die im Studium schwerpunktmäßig behandelten Rechtsgebiete existiert deshalb eine Fülle von Schemata. Diese geben von Tatbestandsmerkmalen über Definitionen bis hin zu bestimmten typischen Problemkonstellationen eine genaue Reihenfolge der zu diskutierenden Prämissen vor.
Beispiel: So könnte das Prüfungsschema für einen Zahlungsanspruch gemäß § 433 Abs. 2 BGB so aussehen: A. Anspruch entstanden? I. § 433 Abs. 2 BGB – Vertragsschluss? 1. Angebot a) Willenserklärung b) Wesentliche Vertragsbestandteile enthalten c) Zugang 2. Annahme a) Willenserklärung b) in Bezug auf das Angebot abgegeben c) Einverständnis mit dem Angebot d) Zugang II. Zwischenergebnis B. Anspruch untergegangen? z. B. durch Widerruf, Rücktritt, Aufrechnung, Anfechtung (str.) C. Anspruch durchsetzbar? z. B. Verjährung, Zurückbehaltungsrechte. Sie sehen am eben gezeigten Beispiel, dass man Prüfungsschemata unterschiedlich differenziert ausgestalten kann. So verstecken sich auch hinter den Punkten Willenserklärung, Zugang, Rücktritt, Anfechtung etc. wiederum eigene Schemata, welche die jeweiligen Tatbestandvoraussetzungen auflisten. So hilft das Schema zwar einerseits dabei, alle potentiell wichtigen Punkte für die Fallbearbeitung lückenlos und in der üblichen Reihenfolge abzuarbeiten, andererseits müssen die Schemata auch eine gewisse Übersichtlichkeit behalten. Selbstverständlich ist niemand in der Lage, die Gesamtheit aller denkbaren Prüfungsschemata auswendig zu lernen. Im Studium ist dies nur in den intensiv behandelten Rechtsgebieten notwendig und auch dort nur für die gängigsten Konstellationen. Häufig müssen Prüfungsschemata auch nicht oder nur teilweise auswendig gelernt werden, denn das Gesetz gibt ja den Großteil der Voraussetzungen mehr oder weniger deutlich wieder, sodass man das entsprechende Schema häufig auch ad hoc selbst erstellen kann.
Beispiel: So kann man die Merkmale eines Verwaltungsaktes problemlos dem § 35 S. 1 VwVfG entnehmen: § 35 S. 1 VwVfG: Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Prüfungsschema Verwaltungsakt: 1. Hoheitliche Maßnahme (z. B. Verfügung oder Entscheidung) 2. Einer Behörde 3. Regelung eines Einzelfalls 4. Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts 5. Auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet. Wie am Beispiel von § 263 StGB jedoch bereits demonstriert, ergibt sich das Schema häufig nicht derart offensichtlich aus einer einzelnen Gesetzesnorm. Außerdem existieren in vielen Rechtsgebieten weitestgehend etablierte Prüfungsabfolgen, die sich nur mit einem umfassenden Verständnis der Struktur des jeweiligen Gesetzbuches erschließen lassen. Beispiel: Im Strafrecht ist anerkannt, dass die Deliktsprüfung immer dreischrittig zu erfolgen hat und zwar in den Schritten Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Diese Vorgehensweise ergibt sich nicht aus einzelnen Vorschriften, sondern aus der „Systematik“ des StGB – dem Zusammenspiel von Allgemeinem und Besonderem Teil. Im Zivilrecht existiert sogar eine allgemein anerkannte Reihenfolge, in der bestimmte Topoi bei der Suche nach Anspruchsgrundlagen abzufragen sind (vertragliche, vertragsähnliche, dingliche, deliktische und bereicherungsrechtliche Anspruchsgrundlagen). Diese Reihenfolge wird nicht durch das Gesetz „angeordnet“, sondern aus Effizienzgründen verwendet, um die Gefahr überflüssiger Prüfungen von vornherein zu minimieren.
Üblicherweise kann man sich Strukturen, die man selbst erarbeitet hat, wesentlich besser merken als solche, die man nie durchdacht, sondern nur abgespeichert hat. Daher lautet die Empfehlung: Erstellen Sie eigene Schemata! Hierzu müssen Sie keinesfalls das Rad neu erfinden, sondern können und sollten sich der bereits vorhandenen Ausbildungsliteratur und des Gesetzestextes bedienen. Sie werden feststellen, dass die Schemata zwar zum ganz überwiegenden Teil in ihren Grobgliederungspunkten ähnlich sind, in der Feingliederung – also da, wo es um die spezifischen Rechtsprobleme geht – durchaus abweichen können. Auch bei der Ausführlichkeit können Unterschiede bestehen. Hier sollten Sie für sich selbst herausfinden, ob Sie eher die Sicherheit eines Schemas brauchen, das jede Eventualität berücksichtigt, Definitionen und Hinweise auf typische Problemkonstellationen enthält, dadurch aber auch sehr umfangreich und entsprechend aufwendig zu verinnerlichen ist, oder ob Ihnen ein grober „Fahrplan“ für Falllösung ausreicht. Jedenfalls werden Sie auf diesem Wege eher verstehen, warum etwas in einer bestimmten Reihenfolge (oder überhaupt) geprüft wird, und außerdem werden Sie schnell ein Gefühl für die juristentypische Denk- und Argumentationsweise entwickeln und eine schematische Vorgehensweise erlernen.
Prüfungsschemata sind zwar einerseits eine unverzichtbare Hilfe beim Abprüfen aller potentiell einschlägigen Prämissen, jedoch sind sie eben auch nur eine Orientierungshilfe und müssen keinesfalls sklavisch abgearbeitet werden. Vielmehr ist es wichtig, innerhalb des jeweiligen Schemas diejenigen Prämissen herauszugreifen, bei denen fraglich ist, ob sie im Hinblick auf die Besonderheiten des konkreten Falls (Sachverhalts) überhaupt zur plausiblen Begründung der Lösung beitragen können. Diese sind dann eventuell zu diskutieren, in Frage zu stellen oder gar rundweg abzulehnen. Stellen Sie sich ein Prüfungsschema wie eine Checkliste vor, die bei den Punkten, die nicht auf den ersten Blick abgehakt oder verworfen werden können, weiter ausdifferenziert und konkretisiert werden muss.
Beispiel: Greifen wir nochmal unser kaufvertragliches Prüfungsschema auf. Ist im Sachverhalt deutlich geschildert, dass ein Angebot unstreitig vorliegt, jedoch der Zugang der Annahme problematisch ist, dann würde man das Schema in der Lösungsskizze entsprechend der Gegebenheiten des Falls anpassen: A. Anspruch entstanden? I. § 433 Abs. 2 BGB – Vertragsschluss? 1. Angebot (hier tauchen bei der Begründung keinerlei Probleme auf, daher auch keine tiefergehenden Ausführungen erforderlich) 2. Annahme a) Willenserklärung b) in Bezug auf das Angebot abgegeben c) Einverständnis mit dem Angebot d) Zugang? Die Tatbestandsmerkmale sind der Zugangsdefinition entnommen. Danach liegt Zugang vor, wenn die Erklärung derart in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass bei gewöhnlichen Verhältnissen mit der Kenntnisnahme zu rechnen ist. aa) in den Machtbereich des Adressaten gelangt bb) bei gewöhnlichen Verhältnissen mit Kenntnisnahme zu rechnen II. Zwischenergebnis B. Anspruch untergegangen? z. B. durch Widerruf, Rücktritt, Aufrechnung, Anfechtung (str.) C. Anspruch durchsetzbar? z. B. Verjährung, Zurückbehaltungsrechte.
Ähnlich einer Checkliste für das Kofferpacken geht es bei der Verwendung von Prüfungsschemata primär darum, nichts zu vergessen. Die mit einem Obersatz vergleichbare Ausgangshypothese könnte lauten: „Der Koffer könnte für die bevorstehende Reise vollständig gepackt sein.“ Bei bestimmten Gegenständen (Wäsche, Socken und Zahnbürste) kann man sich relativ sicher sein, dass man sie nicht vergisst. Außerdem muss nur selten hinterfragt werden, ob man diese Dinge wirklich braucht oder nicht. Ob allerdings der Punkt „Sonnencreme“ auf der Checkliste abgehakt werden muss, hängt von immer wieder wechselnden Umständen wie Jahreszeit, Klima oder der konkreten Wettervorhersage ab. Es muss also genau die tatsächliche Ebene (in der Klausur: der Sachverhalt) untersucht werden, um herauszufinden, ob dieser Punkt überhaupt relevant ist. So könnte in unserem Beispiel zum Kaufpreisanspruch der Prüfungspunkt „Zugang (der Annahme)“ irrelevant sein, wenn § 151 BGB Anwendung fände, da nach dieser Vorschrift der Zugang einer Annahmeerklärung unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise entbehrlich ist.
Ein weiterer Aspekt des Themas „Prüfungsschema“ ist ein Punkt, den wir bereits angesprochen haben: Wie ist der einzelne Prüfungspunkt zu verstehen, was ist darunter zu verstehen, wie ist er ggf. „auszulegen“? Um zum Beispiel der Checkliste für den Reisekoffer zurückzukehren: Nehmen wir an, ein Punkt lautet „Abendgarderobe“. Bei diesem Posten muss nicht nur geklärt werden, ob er benötigt wird, sondern auch, ob die eingepackte Kleidung dem ganz bestimmten Anlass entspricht. Ist ein Besuch zu zweit in einem romantischen Restaurant geplant, wird man sich für einen anderen Aufzug entscheiden als für ein Geschäftsessen oder einen Besuch des Wiener Opernballs. Diese Situation ist vergleichbar mit der Klärung eines Tatbestandsmerkmals, das grundsätzlich hinreichend bestimmt erscheint, aber im konkreten Fall Anlass zu einer Auslegung bzw. einer streitigen Diskussion über Definitionen bietet.
Derartige Posten eines Schemas werden – da Sie eben nicht ohne weitere Erörterung abgehakt werden können – in Ihrem Fallgutachten regelmäßig den größten Raum einnehmen. Im Umkehrschluss sind gerade die Punkte des Schemas kurz – wenn nötig im Urteilsstil – abzuhandeln, welche ganz offensichtlich abgehakt werden können. Diese Form der Schwerpunktsetzung ist eine juristische Grundfertigkeit und wird auch häufig mit dem Begriff „Problembewusstsein“ verknüpft. Dahinter steckt die Fähigkeit, die Tatbestandsmerkmale, die man gelernt oder selbst aus dem Gesetz abgeleitet hat, eigenständig zu gewichten und sich in seinen Ausführungen zu rechtlich Unproblematischem kurz zu fassen. Mit diesem wichtigen Thema beschäftigen wir uns in Bezug auf die Gutachtenerstellung gründlich im Kapitel „Kurz oder weit – von der Feststellung zum Meinungsstreit“. Das Wesentlichkeitsprinzip, oder auch – wenn man so will – eine gewisse Ökonomie des Denkens, die für die passende, problemgerechte Gewichtung sorgt, regiert aber nicht nur das Gutachten, sondern die gesamte Tätigkeit der Juristen, besonders auffällig in der Praxis. Beispiel: Wenn vor Gericht der Zahlungsanspruch aus einem Kaufvertrag streitig ist, wollen die Parteien vom Richter keine weitschweifigen Ausführungen darüber hören, ob dieser Anspruch verjährt sein könnte, wenn der Vertragsschluss erst sechs Monate zurückliegt, oder darüber, ob der Anspruch durch Aufrechnung erloschen sein könnte, wenn offensichtlich weder eine Gegenforderung noch eine Aufrechnungserklärung vorliegen.
Das Jurastudium zielt zwar auch und in nicht unwesentlichem Maße auf Wissenserwerb ab, ist in seinen Prüfungen in Anlehnung an die Praxis jedoch anwendungsbezogen und insoweit auf effiziente Arbeit gerichtet. Widerstehen Sie also dem Drang, mühsam erlerntes Wissen in die Klausur einzubringen, wenn es nicht für die Lösung der Rechtsprobleme relevant ist!
Auch an dieser Stelle merken Sie übrigens erneut, dass die juristische Arbeitsweise zirkulär und nicht geradlinig vom Sachverhalt über das Gesetz zur Lösung verläuft. Nach einer ersten Assoziation, die durch bestimmte Informationen des Sachverhalts hervorgerufen wird („A wirft einen Stein nach B“ – Körperverletzung?!), wird das dazugehörige Prüfungsschema im Kopf, aus dem Gesetz – oder außerhalb der Klausur auch aus anderer Quelle – aufgerufen, um dieses dann wiederum mit den Detailinformationen aus dem Sachverhalt abzugleichen. Hierbei stellt sich nach einem Rückblick auf den Sachverhalt heraus, welche Punkte im konkreten Fall relevant sind und welche nicht, welche von den relevanten Punkten problematisch und welche eher offensichtlich sind und ob weitere Schemata herangezogen werden müssen („Stein“ → Gefährliches Werkzeug?! → Gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 StGB?!). Auf diese Weise gelangen Sie auf den Checklisten im ständigen Abgleich mit den Fakten auf immer tiefere Ordnungsebenen, bis alle konkret relevanten Prüfungspunkte geklärt sind.
e) Lehrbücher und Kommentare – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Eine weitere wichtige Quelle bei der Prämissensuche bilden die Lehrbücher und die Kommentarliteratur. Nehmen Sie sich zwei repräsentative Vertreter jeder Gattung zur Hand66 und vergleichen Sie sie oberflächlich. Sie werden auf den ersten Blick wenige Gemeinsamkeiten feststellen. Kommentare erläutern den Normtext eines Gesetzes und sind daher wie ein Gesetzbuch – Paragraf auf Paragraf – mit der jeweiligen Anmerkung aufgebaut. Lehrbücher hingegen folgen einem sachlich-didaktischen Konzept, das nicht zwingend an die gesetzliche Abfolge, sondern vorwiegend an die rechtsdogmatische Systembildung angelehnt ist. Ein weiterer augenfälliger Unterschied ist, dass sich Kommentare mit der Fülle der Praxis, besonders der Rechtsprechung auseinandersetzen, dem Fachpublikum wichtige Entscheidungen in Stichworten mitteilen und vernetzen, indem man sie einzelnen Vorschriften und Rechtsbegriffen (Schlagworten, „Topoi“, Keywords) zuweist, ein- und aussortiert, einander zuordnet, typisiert und manchmal zu neuen Begriffen zusammenfasst. Lehrbücher hingegen bewegen sich auf einer höheren Abstraktionsebene. Sie erläutern die Grundsätze und Hintergründe eines Rechtsgebiets, beschreiben die Begriffe und Oberbegriffe in ihrem systematischen Zusammenhang oder bilden ihn manchmal sogar erst selbst heraus. Deshalb fühlt sich der Anfänger oftmals von der Bezeichnung „Lehrbuch“ getäuscht, erwartet er doch ein „Lernbuch“ und erhält eine rechtswissenschaftliche Abhandlung.
Der Kommentar wiederum wendet sich eindeutig an die Rechtspraktiker, und damit an die Fortgeschrittenen. Deshalb ist er sprachlich deutlich knapper gehalten, wesentlich detailorientierter und enthält, was man im Tagesgeschäft braucht: vor allem einen Überblick über die Leitsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den Tatbestandsmerkmalen der einzelnen Normen. Schon am Umfang67 kann man leicht erkennen, dass Kommentare als Nachschlagewerke konzipiert sind, die man nicht von Anfang bis Ende, sondern problemorientiert liest. Unter dem Aspekt der Prämissensuche ergänzen sich beide Literaturformen. Kommentare und Lehrbücher haben beide den Anspruch, die Rechtssätze des jeweiligen Rechtsgebiets unter bestimmten Topoi zusammenzustellen, näher zu erläutern, mit Fallbeispielen und Rechtsprechung zu illustrieren und insgesamt für die Rechtsanwendung handhabbar zu machen.
Im Studium kommen beide Prämissenquellen übrigens nur für die Prämissensuche außerhalb der Klausur zum Einsatz. Während der Klausur sind keine Lehrbücher und üblicherweise auch nur unkommentierte Gesetzestexte als Hilfsmittel zugelassen. Mit dieser Bedingung stehen Sie deutlich anders vor Ihren Fällen als später in Ihrem Arbeitsalltag, wo – aufgrund der grenzenlosen Bandbreite rechtlicher Problemkonstellationen – Kommentare in einem vergleichsweise frühen Stadium zur Argumentationsfindung herangezogen werden. Zur Vorbereitung der Klausuren wie in Ihrem gesamten Studium werden Sie sich schwerpunktmäßig mit Lehrbüchern befassen, da Sie die juristische Denk- und Arbeitsweise erlernen wollen, in die die Kommentarliteratur nur begrenzt Einsicht gewährt. Viele Erläuterungen in Kommentaren sind ohnehin nur für Kenner verständlich, da sie voraussetzen, dass der Leser bereits mit der Fachsprache, der Methodenlehre und vor allem mit den Zusammenhängen und Prüfungsbesonderheiten des Rechtsgebiets vertraut ist.
Beispiel: Sie werden kaum Schwierigkeiten dabei haben, in einem gängigen Kommentar zum StGB eine Definition des Tatbestandsmerkmals „Vorteil“ aus § 331 Abs. 1 StGB zu finden, was in den Lehrbüchern zum Besonderen Teil des Strafrechts eher selten der Fall ist, da § 331 Abs. 1 StGB in der Juristenausbildung kaum Relevanz hat. Was Sie in einem Kommentar nicht ohne Weiteres finden werden, ist die elementare Information, dass die Straftatbestände des StGB in dem Dreischritt Tatbestand – Rechtswidrigkeit – Schuld geprüft werden, und man wird ebenfalls nicht darauf gestoßen, dass im Strafrecht Analogieschlüsse zulasten des Täters verboten sind.
Dennoch können Kommentare insbesondere dann sehr hilfreich sein, wenn man sich bereits in ein Rechtsgebiet eingearbeitet hat und an dem Punkt angelangt ist, an dem man zur konkreten Klausurvorbereitung eigene Prüfungsschemata oder Karteikarten erstellt. Ein Kommentar ermöglicht im Regelfall, die passende Definition oder Meinungsstreitigkeit schnell zu finden. Hinzu kommt, dass Lehrbücher häufig die Tendenz aufweisen, die vom Autor vertretene Rechtsmeinung weniger kritisch zu beleuchten, als dies in Kommentaren der Fall ist. Hier zeigen häufig bereits die unter „a.A.“ (andere Auffassung) oder „abweichend“ aufgeführten Rechtsprechungsnachweise, dass die Meinung des Autors von maßgeblichen Instanzen nicht vertreten wird.
Eine größere Rolle spielen Kommentare im Rahmen des Studiums gerade bei Einsende-, Seminar- und Bachelorarbeiten, in denen erwartet wird, dass das Meinungsspektrum zu den behandelten Rechtsproblemen in seiner vollen Bandbreite dargestellt und kontrovers diskutiert wird.
f) Generalklauseln
Zum Abschluss des Kapitels soll noch eine Prämissensammelstelle Erwähnung finden, die ihren Ursprung zwar nicht „außerhalb“ des Gesetzestextes hat, aber aufgrund ihrer Besonderheiten nicht mit der herkömmlichen Gesetzesnorm verglichen werden kann. Generalklauseln stehen zwar im Gesetz, sind aber – wie ihr Name es bereits vermuten lässt – sehr generell gehalten und daher ausfüllungsbedürftig. Dieses Bedürfnis nach konkretisierenden Inhalten, die in einige Generalklauseln „hineingelesen“ werden müssen, ist so weitgehend, dass man nicht mehr davon sprechen kann, die einer Generalklausel unterstellten Prämissen seien dem Gesetzestext entnommen.
Beispiel: Die prominenteste Generalklausel des deutschen Rechts findet sich in § 242 BGB. Hier heißt es: „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ Bei dieser Norm hat man bereits Probleme, mit der Wenn-Dann-Formel Tatbestand und Rechtsfolge genau herauszuarbeiten.68 Ebenso problematisch ist es, präzise zu sagen, was „Treu und Glauben“ und die „Verkehrssitte“ beinhalten sollen. Andere Beispiele für Generalklauseln sind § 118 Abs. 1 OWiG oder die polizeirechtlichen Generalklauseln (in NRW § 8 Abs. 1 PolG).
Mit dem Erlass von Generalklauseln hat der Gesetzgeber selbst ein Einfallstor für die außergesetzliche Rechtsfortbildung geschaffen und Rechtsprechung und Lehre die Möglichkeit eröffnet, Gesetze zeitgemäß anzuwenden69, Regelungslücken zu schließen und allgemeine Gerechtigkeitserwägungen einzubringen. Um Generalklauseln im Rechtsalltag und im Studium handhabbar zu machen, bezieht man sich auf die zur jeweiligen Vorschrift existierende Kasuistik, also auf anerkannte Fallgruppen, die von Rechtsprechung und Lehre entwickelt wurden.
Beispiel: Im Rahmen von § 242 BGB sind u. a. die folgenden Fallgruppen als „treuwidrig“ (Verstoß gegen Treu und Glauben) anerkannt: Rechtsmissbrauch Verwirkung von Rechten Widersprüchliches Verhalten. Die Generalklauseln sind ebenfalls als Sammelstelle für grundrechtliche Wertungen anerkannt. Zwar regeln die Grundrechte in ihrer ursprünglichen Funktion primär das Verhältnis von Bürger und Staat in der Form, dass der Bürger sich mit ihrer Hilfe staatlicher Eingriffe in seine Rechte erwehren kann. Dennoch wurde von der Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt, dass die grundrechtlichen Wertungen über die Generalklauseln auch im Zivilrecht – als dem Recht, welches das Verhältnis rechtlich gleichgestellter Bürger regelt – im Rahmen von Interessenabwägungen berücksichtigt werden können.
Beispiel: Bei Rechtsstreitigkeiten von Mietern, die gegen den Willen des Vermieters an der Mietwohnung eine Parabolantenne (Satellitenschüssel) anbringen wollen, wird üblicherweise bei der Frage, ob dies nach Treu und Glauben zum vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache gehört, das Grundrecht des Mieters auf Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG) gegen das Eigentumsrecht des Vermieters (Art. 14 Abs. 1 GG) abgewogen.70 Da sich das deutsche Zivilrecht in der Tradition des römischen Rechts sieht, werden über die Generalklauseln auch einige althergebrachte Lehrsätze des römischen Rechts zu Anwendung gebracht.
Beispiel: So bringt der Rechtssatz dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est (frei übersetzt: Es ist arglistig, etwas zu verlangen, das man ohnehin direkt wieder zurückgeben müsste) zum Ausdruck, dass man einen Anspruch dann nicht durchsetzen kann, wenn dem Anspruchsgegner Gegenrechte zustehen, die den Anspruchsinhaber zur unmittelbaren Rückgabe verpflichten würden. Ein anderer etablierter Rechtssatz ist venire contra factum proprium (Zuwiderhandeln gegen vorheriges Verhalten), durch den derjenige geschützt wird, der auf das vorherige Verhalten seines Gegenübers vertraut hat.
Auch wenn Sie jetzt vielleicht den Eindruck gewonnen haben, Generalklauseln seien eine Art „juristische Allzweckwaffe“, mit der man nahezu jede zielführende Argumentation stützen kann, trifft dies aber nur sehr bedingt zu. Im Studium wird die Lösungsskizze einer Klausur fast immer erwarten, dass eine anerkannte Fallgruppe der Generalklausel wiedergegeben und angewandt wird. Nur wenn die Falllösung in diesem bekannten Raster zu einem ganz offensichtlich unvertretbaren Ergebnis führen würde oder wenn der Klausursteller es offensichtlich darauf angelegt hat, dass Sie im Rahmen einer Generalklausel eigene Prämissen aufstellen, sollten Sie das Wagnis eingehen und Ihrer juristischen Kreativität freien Lauf lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Klausur auf der Grundlage eines solchen Lösungswegs konzipiert wurde, ist jedoch sehr gering.
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Der Auslegungskanon
Den sogenannten Auslegungskanon der Rechtswissenschaft haben Sie bereits an verschiedenen Stellen dieses Kurses kennengelernt.71 Seine grundsätzlich vier Ausformungen (grammatische, historische, teleologische und systematische Auslegung) fungieren als wesentliche Topoi der Jurisprudenz. Studierende kommen damit in zwei Formen in Berührung: 1. Mit den konkreten Prämissen, die Rechtsprechung und Lehre aus diesen (formellen) Topoi bereits gewonnen haben. Hierbei handelt es sich häufig um Definitionen, die als herrschende Meinung gelten und von Ihnen auswendig gelernt werden müssen. Beispiel: „Ein Werkzeug ist gefährlich, wenn es nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen“ 72. 1. Sie nutzen den Auslegungstopos selbst als Werkzeug, um eigenständig eine derartige Prämisse herzustellen, weil Sie mit einem unbekannten Rechtsproblem konfrontiert sind – oder die bekannten Prämissen nicht auswendig können.
Im ersten Fall leisten Sie selbst keine Auslegungsarbeit, sondern geben die Prämisse wieder, die von den Vertretern der dargestellten Rechtsmeinung aus dem Topos gezogen wurde73. Letztlich spulen Sie Gelerntes ab und wissen oft noch nicht einmal, zu welcher Sammelstelle die jeweilige Aussage gehört bzw. mit welchem Werkzeug (formeller Topos) sie entwickelt wurde. Das erfordert Gedächtniskraft, die selbstverständlich unterstützt wird, wenn man mit den zugrundeliegenden Auslegungstopoi vertraut ist und die regelmäßig wiederkehrenden Argumentationsmuster in diesem Feld schon häufig gesehen und verinnerlicht hat.
Im zweiten Fall ist Ihre eigene Argumentationskunst gefragt. Dabei vergessen Sie nie, dass es kein richtiges oder falsches, sondern nur ein juristisch überzeugendes Ergebnis gibt. Der Auslegungskanon bietet zwar keine Methode im engeren Sinne, deren Anwendung Ihnen eine exakte und dauerhafte Erkenntnis über das ausgelegte Tatbestandsmerkmal garantiert, aber er zwingt Sie in einen Argumentationsrahmen, der die Prämissengewinnung methodisch nachvollziehbar macht und Willkür und Beliebigkeit bei der Argumentation ausschließt.
Beispiel: § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB stellt als „gefährliche Körperverletzung“ die Körperverletzung „mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ unter Strafe (bitte lesen!). Lautet der zu bearbeitende Sachverhalt, dass A den B mit einem Vorschlaghammer gegen den Kopf schlägt und B daraufhin einen Schädelbasisbruch erleidet, so dürfte Ihnen relativ schnell klar sein, dass es sich bei dem von A geführten Vorschlaghammer um ein „gefährliches Werkzeug“ im Sinne der Vorschrift handelt. In diesem Fall greifen Sie direkt auf die Prämisse zurück, also die allgemein anerkannte Definition des gefährlichen Werkzeuges74, die Sie als vorbildliche Studierende gelernt haben.
Kennen Sie die Definition nicht, lenken Sie Ihren Blick kurz auf die Ebene der Topoi, aus denen man wohl eine Definition entwickeln würde, insbesondere die Auslegungsmodi. Mit der Wortlautauslegung leuchtet direkt ein, dass ein Vorschlaghammer nach dem allgemein unterstellten Wortsinn ein „Werkzeug“ ist, dessen „Gefährlichkeit“ ja gerade am Kopf des B demonstriert wurde. In diesem eindeutigen Fall würden Sie in der Klausur nie auf die Auslegungsformen zu sprechen kommen (Überflüssiges weglassen!). Vielmehr stellen Sie einfach das Ergebnis der erfolgreichen Subsumtion fest. Anders liegt der Fall, wenn der A den Kopf des B – mit denselben gesundheitlichen Folgen – gegen eine Bordsteinkante schlägt. Nun muss die Frage, ob es sich um die Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges handelt, problematisiert und begründet, also über eine definierende Prämisse, beantwortet werden. Obersatz: Fraglich ist, ob eine Bordsteinkante ein gefährliches Werkzeug ist. Definition: Ein gefährliches Werkzeug ist – Definiendum = gesuchte Prämisse. Subsumtion: Bordsteinkante – Prämisse. Ergebnis: Bordsteinkante – gefährliches Werkzeug. Stellte man wiederum auf den Wortsinn ab, so müsste man einräumen, dass wohl niemand, der die deutsche Sprache sicher beherrscht, bei einem „Werkzeug“ unvermittelt an eine fest verbaute, von keiner Menschenhand zu bewegende Bordsteinkante denkt. Stellt man jedoch auf den Schutzzweck der Vorschrift ab, wählt also einen teleologischen Ansatz, kann man herausstellen, dass Sinn und Zweck des § 224 StGB darin liegen, Körperverletzungen mit besonders hohem Gefahrenpotential härter zu bestrafen als die „einfachen“ Körperverletzungen nach § 223 StGB. Damit führt die Auslegung diesmal zum Auffinden zweier entgegenstehender Prämissen: „Der Wortlaut spricht gegen eine Einordnung der Bordsteinkante als gefährliches Werkzeug im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB.“ „Der Schutzzweck des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB spricht für eine Einordnung der Bordsteinkante als gefährliches Werkzeug.“ Nach dem – als selbstverständlich zu unterstellenden – Satz vom Widerspruch (man kann nicht zugleich zustimmen und verneinen) ist – über die Sammelstelle „Juristische Kollisionsregeln“ – eine Entscheidung herbeizuführen. Hier ist auf den Grundsatz zurückzugreifen, dass die Grenze jeglicher Auslegung der Wortlaut ist75. Dieser Lehrsatz ist zwar nicht unstreitig, aber im Strafrecht wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG in höchstem Maße anerkannt76. Folglich werden Sie – „methodisch nachvollziehbar“ – der grammatischen Auslegung, und damit der ersten Prämisse den Vorzug geben.77
Am eben gezeigten Beispiel können Sie mehreres erkennen: Die einzelnen Auslegungsformen bieten sehr geeignete Prämissensammelstellen. Wenn sie auch nicht immer zu einem vorhersagbaren Ergebnis führen, gelingt es doch mit ihrer Hilfe, bestimmte Argumentationsrichtungen von vornherein zu begrenzen oder ganz auszuschließen.
Beispiel: So eine Auslegung über die ökonomische Prämisse „Im Zweifel für kürzere Gefängnisaufenthalte zugunsten des Staatshaushalts“, um A wegen einfacher (§ 223 StGB) und nicht wegen gefährlicher (§ 224 StGB) Körperverletzung zu verurteilen, ist für sich genommen und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten durchaus plausibel. Allerdings ist es argumentativ äußerst schwierig, sie in den Kontext einer der Auslegungsmethoden zu stellen und damit zu einer juristisch plausiblen Prämisse zu machen.
V. Die Prämissensuche in der Klausur
Nachdem wir die wichtigsten Prämissenkategorien und ihre Sammelstellen kennengelernt haben, wollen wir uns abschließend dem für Sie aktuell wichtigsten Anwendungsbereich dieses Wissens widmen: der Klausur. Auch in diesem Zusammenhang muss vorab klargestellt werden, dass es leider kein Patentrezept gibt, welches bei korrekter Anwendung gleichbleibenden Erfolg garantiert. Trotzdem kann und sollte man sich eine Arbeitsstruktur zurechtlegen, die Hilfestellung beim Auffinden von Prämissen leistet und die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, keine für die Fallbearbeitung wesentliche Prämisse zu übersehen oder zu vergessen. Wie bereits angesprochen, wird die rechtliche Lösung eines Falles in einer Art Denkzirkel gefunden, der schrittweise bestimmte Aspekte in die Überlegung einbezieht, mit dem Sachverhalt abgleicht und sie dann entweder verwirft oder vertieft.78 Dieses „Umkreisen“ der Lösung findet so lange statt, bis Sie einerseits alle unpassenden Prämissen ausgeschieden haben und andererseits alle passenden Prämissen soweit vertieft und mit dem Sachverhalt abgeglichen (subsumiert) sind, dass sie die Rechtsfolge plausibel begründen.
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Sachverhalt und Fallfrage
Wie bekannt, beginnt die systematische Klausurlösung immer mit der Lektüre des Sachverhalts. Im Unterschied zum „wahren Leben“ steht der Sachverhalt bereits fest und ist auf die für die Falllösung wesentlichen Informationen reduziert. Sie müssen also davon ausgehen, dass alle Informationen im Sachverhalt für die Falllösung potentiell relevant sind. Daher ist es empfehlenswert, den Sachverhalt zunächst einmal unbefangen – d. h. in Unkenntnis der Fallfrage – zu lesen. Das vorherige Lesen der Fallfrage kann dazu führen, dass man den Sachverhalt unbewusst selektiv liest und vielleicht wichtige Assoziationen, die bestimmte Sachverhaltsinformationen ausgelöst hätten, verloren gehen. Nach der unbefangenen Lektüre des Sachverhalts kommen Sie zum eigentlichen Ausgangspunkt der Fallbearbeitung: der Fallfrage. Diese legt das Prüfungsprogramm fest, also auf welche im Sachverhalt angelegten Rechtsfragen eingegangen werden soll und auf welche nicht. Beispiel: „Hat A gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 200 EUR aus § 433 Abs. 2 BGB?“ Hier sind sowohl die Beteiligten als auch die zu prüfende Norm genau festgelegt. Die Fallfrage deckt sich ausnahmsweise mit der zu prüfenden Rechtsfrage. Diese Fragestellung ist in Fortgeschrittenenklausuren jedoch eher selten anzutreffen. Hier ist auch bereits der Ausgangspunkt für die Prämissensuche festgelegt, nämlich § 433 Abs. 2 BGB, der die Ausgangsprämisse liefert, dass der Verkäufer vom Käufer die Zahlung des Kaufpreises verlangen kann. Im Strafrecht könnte eine vergleichbare Fallfrage beispielsweise lauten: „Hat C sich gemäß § 249 Abs. 1 strafbar gemacht?“ Oder im Öffentlichen Recht: „Verletzt das Luftsicherheitsgesetz den Beschwerdeführer B in seinem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG?“ Das gegenteilige Extrem einer Fallfrage ist die häufig in Klausuren anzutreffende Formulierung: „Wie ist die Rechtslage?“ Hier müssen Sie selbst alle im Sachverhalt angelegten Rechtsfragen entdecken, ausformulieren und prüfen. Für die Prämissensuche hat das die Konsequenz, dass Sie zunächst herausfinden müssen, welche Rechtsfolgen gesucht werden (z. B.: Anspruch auf Zahlung? Anspruch auf Rückabwicklung des Vertrages? Anspruch auf Herausgabe? Folgenbeseitigungsanspruch? Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes? etc.), um sich dann ausgehend von der Rechtsfolge die Prämissen suchen zu können, die diese Rechtsfolge unter den Gegebenheiten des konkreten Sachverhalts stützen oder ihr eventuell entgegenstehen (Der Zahlungsanspruch ist zwar nach § 433 Abs. 2 BGB entstanden, aber mittlerweile verjährt und daher nicht durchsetzbar.) Zwischen diesen beiden Extrempolen gibt es noch viele weitere Fallfragen, welche zwischen den beiden Varianten liegen, beispielsweise: „Welche Ansprüche stehen V zu?“ – „Kann A von B die Herausgabe des Fahrrades verlangen?“ – „Ist der Rückzahlungsbescheid rechtmäßig?“ -
Gesucht: Passende Rechtsnorm
Das Suchen der passenden Prämissen sollte immer am Gesetz ansetzen, denn wie Sie gelernt haben, ist das Gesetz der Dreh- und Angelpunkt jeglicher rechtlicher Argumentation. Sie brauchen also zunächst eine einschlägige Rechtsnorm, die im ersten Obersatz des Gutachtens den Anknüpfungspunkt der Prüfung liefert. Beispiele: „V könnte gemäß § 823 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz i. H. v. 500 EUR gegen S haben.“ „Der T könnte sich gemäß § 185 StGB wegen Beleidigung strafbar gemacht haben, indem er den Polizisten P einen ‚Bullen‘ nannte.“ Der gröbste Suchfilter für die potentiell einschlägigen Rechtsnormen ist die Rechtsfolge. Ist nach Schadensersatz gefragt, müssen Normen, die als Rechtsfolge die Herausgabe einer Sache oder einen Zahlungsanspruch begründen, nicht in die engere Auswahl genommen werden. Im Strafrecht hilft dieser Filter kaum weiter, da strafrechtliche Normen fast ausschließlich die Rechtsfolgen „Strafbarkeit“, „Rechtfertigung“ oder „Entschuldigung“ enthalten. Sie haben also mit der Auswahl nach Rechtsfolge nur die erste ungefähre Richtung eingeschlagen. Nun muss der Blick auf die Tatbestandsseite der Normen gerichtet werden. Wie oben unter Abschnitt III. 1. bereits dargestellt, müssen jetzt die verschiedenen Topoi abgefragt werden, nach denen Gesetze strukturiert sind bzw. nach denen sie sich strukturieren lassen (Inhaltsverzeichnis, formelle/materielle Inhalte, Allgemeiner und Besonderer Teil etc.). Es soll an dieser Stelle nicht verheimlicht werden, dass besonders in der juristischen Ausbildung – aber auch in der heutzutage inhaltlich zumeist hochspezialisierten Praxis – Normen gefragt sind, mit denen Sie zuvor schon in Berührung gekommen und wenigstens rudimentär vertraut sind. Beispiel: „Der von B beauftragte Anstreicher A verschüttet beim Streichen des Wohnzimmers einen Eimer Farbe auf dem Perserteppich des B, wodurch der Teppich irreparabel beschädigt wird. A hatte vergessen, den Teppich mit Folie abzudecken. Der Teppich hatte einen Zeitwert von 3000 EUR, die der B nun von A ersetzt haben möchte.“ Hier geht es offensichtlich um einen Schadensersatzanspruch in einem privatrechtlichen Kontext, so dass man das BGB zur Hand nehmen und zunächst alle Schadensersatzansprüche heraussuchen könnte, um dann eine weitere Auswahl zu treffen. Dies wäre sehr unökonomisch. Man behält also im Hinterkopf, dass es um Schadensersatz geht und überlegt sich daraufhin, welche Normen des BGB tatbestandlich zu dem geschilderten Sachverhalt passen könnten. Als erstes könnte man an § 823 Abs. 1 BGB denken, der – sehr allgemein und in vielen Schadensersatzkonstellationen passend – Schadensersatz für die Verletzung bestimmter Güter regelt, u. a. auch für Eigentumsverletzungen. Realistischerweise haben Sie diese Vorschrift nicht durch einen Blick in das Inhaltsverzeichnis gefunden, sondern kennen sie aus dem Zivilrechtskurs, in dem sie als Standardvorschrift ständig aufgetaucht ist. Ihre Suche endet an dieser Stelle jedoch nicht, da Sie sich daran erinnern, für privatrechtliche Anspruchsprüfungen ein Prüfungsschema gelernt zu haben, nach dem zuerst immer vertragliche Ansprüche zu prüfen sind. B hat den A „beauftragt“, also scheint zwischen den beiden eine vertragliche Beziehung zu bestehen. Da es aber nicht um ein schlechtes Anstreichen der Wand und somit um die Verletzung einer vertraglichen Primärpflicht aus dem Werkvertrag, sondern vielmehr um das Beschädigen des Teppichs anlässlich der Erfüllung vertraglicher Primärpflichten geht, ist es naheliegend, dass es eine Regelung für alle Vertragstypen gibt, die eine Schadensersatzpflicht anlässlich der Vertragserfüllung regelt. Um an dieser Stelle weiterzukommen, müssen Sie entweder wissen oder sich aus dem Gesetz herleiten (z. B. aus § 311 BGB), dass Verträge Schuldverhältnisse sind und damit Schadensersatzansprüche gemäß §§ 280 ff. BGB in Frage kommen. Sie sehen, dass bereits in der ersten Suchphase eine Kombination verschiedener Suchtechniken, Lernwissen und dem Abfragen bestimmter Prämissensammelstellen zum Tragen kommen kann. Haben Sie eine oder mehrere Normen gefunden, die sowohl die gewünschte Rechtsfolge anordnen und ebenfalls auf der Tatbestandsseite zum vorliegenden Sachverhalt „passen“, können Sie in die nächste Suchphase einsteigen. -
Tatbestandsvoraussetzungen herausarbeiten
Bei der Suche nach den passenden Einstiegsnormen gleicht man die Tatbestandsvoraussetzungen nur oberflächlich oder nur teilweise ab. In der oben beschriebenen Zirkelbewegung kommt man nun – mit neuen Erkenntnissen ausgestattet (Aha, die §§ 280 ff. und 823 Abs. 1 BGB könnten einschlägig sein) – wieder bei der eigentlich zu beantwortenden Fallfrage an. Dafür müssen den aufgefundenen Normen zunächst alle zur Begründung der durch sie angeordneten Rechtsfolge notwendigen Prämissen (konkret: Tatbestandsmerkmale und deren Definitionen) entnommen bzw. durch Auslegung oder Lernwissen ergänzt werden. Hier kommen auch die Prüfungsschemata ins Spiel, die Sie entweder vor der Klausur gelernt oder sich aus dem Gesetzestext selbst abgeleitet haben. Die übliche und auch hier erteilte Empfehlung ist, diese Schemata niederzuschreiben, dann im Kopf mit dem Sachverhalt abzugleichen (Subsumtion) und dann die Voraussetzung mit einem „+“ oder „–“ zu kennzeichnen, je nachdem ob man sie für gegeben hält oder nicht. Diese Denkstütze nennt man „Lösungsskizze“. Ist die Skizze komplett, dient sie als inhaltliche Grundlage für die Niederschrift des ausformulierten Gutachtens. -
Weitere Prämissen durch Vertiefung
Beim Abgleichen des Prüfungsschemas mit dem Sachverhalt werden Sie üblicherweise auf neue Probleme stoßen, deren Lösung weitere Prämissen erfordert. Beispiel: Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB? – Eigentumsverletzung (+) → Teppich beschädigt – Verletzungshandlung (+) → Verschütten der Farbe – Kausalität zwischen Handlung und Verletzung (+) – Verschulden: Vorsatz/Fahrlässigkeit ??? § 276 Abs. 2 BGB. Nach diesem Muster arbeiten Sie sich durch das Prüfungsschema und minimieren so die Gefahr, etwas zu übersehen oder sich selbst zu widersprechen. Auf diesem Wege finden auch solche Normen Eingang in die Lösung, die Tatbestands- und/oder Rechtsfolgenseite anderer Normen näher ausgestalten. Beispiele: § 249 Abs. 1 BGB: „Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.“ § 276 Abs. 2 BGB: „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“ § 22 StGB: „Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt.“ § 37 Abs. 1 VwVfG: „Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein.“ -
Das Herstellen „eigener“ Prämissen
Sie werden bei der Fallbearbeitung – gerade in späteren Semestern – immer wieder in die Situation geraten, dass weder das Gesetz noch Ihr Lernwissen ausreichen, um alle benötigten Prämissen ad hoc parat zu haben. Wie bereits oben in den Abschnitten zur Auslegung und Rechtsfortbildung angesprochen, ist es notwendig und in der Praxis sogar Teil des Kerngeschäfts, eigene Prämissen aus dem Gesetz abzuleiten oder gar im Rahmen der Rechtsfortbildung selbst herzustellen. Dies muss im Rahmen einer Klausurlösung allerdings unter hohem Zeitdruck geschehen, sodass Sie sich neben reiner juristischer Methodenlehre eine Strategie zurechtlegen sollten, wie man in dieser Situation vorgeht. Im Rahmen der Diskussion streitiger Rechtsfragen lässt sich beobachten, dass sich in den meisten Fällen jedenfalls drei typische Positionen herausbilden: zwei Extrempole und eine vermittelnde Ansicht. Beispiel: Bezüglich des § 153 StGB („Wer vor Gericht […] uneidlich falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“) ist seit jeher umstritten, wann denn eine Aussage überhaupt „falsch“ ist. Der Grund dafür liegt bei genauem Hinsehen schnell auf der Hand. Man kann einerseits die Idee haben, dass das falsch ist, was vom tatsächlich Geschehenen abweicht, also objektiv falsch ist. Andererseits kann man nur das wiedergeben, an das man sich erinnert, weshalb die Gegenansicht vertritt, falsch sei das, was vom Vorstellungsbild des Aussagenden zum Zeitpunkt der Aussage abweicht, also ein subjektiver Ansatz. Damit hat man auch schon seine zwei Extrempositionen, die objektive Theorie und die subjektive Theorie. Und tatsächlich gibt es auch eine „modifizierte objektive Theorie“ (spöttisch auch „objektiv-subjektive Theorie“ genannt), die einen vermittelnden Ansatz verfolgt, also Elemente beider Theorien aufnimmt. Danach ist die Aussage falsch, wenn sie dem wirklichen Erlebnisbild des Aussagenden, d. h. dem, was dieser selbst von der objektiven Wirklichkeit wahrgenommen hat (und nicht dem, was er wahrgenommen zu haben glaubt), nicht entspricht. Neben dem Gegensatzpaar „objektiv–subjektiv“ gibt es noch einige andere häufig und gerne verwendete Gegensatzpaare, beispielsweise „formell–materiell“ oder „extensiv–restriktiv“ (also weit und eng). Diese Art, sich widerstreitende Positionen zu erschließen, um diese dann zu diskutieren und kritisch gegeneinander abzuwägen, sollten Sie immer im Hinterkopf behalten. Sie entspricht im Übrigen auch der üblichen Konstellation eines Rechtsstreits, der eben auch nur in drei Ergebnissen enden kann: dem vollständigen Obsiegen, dem vollständigen Unterliegen oder einer vermittelnden Lösung, also dem teilweisen Obsiegen und teilweisen Unterliegen.
D. Hinweise zur Anfertigung von Seminar- und Bachelorarbeiten
Sebastian Kubis
I. Einführung
Spätestens zum Ende Ihres Bachelor of Laws-Studiums werden Sie Hausarbeiten anfertigen müssen, in denen Sie eine bestimmte Frage „wissenschaftlich“, d. h. unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur, bearbeiten sollen. Zum Teil wird hierbei kein Fall gelöst, sondern es geht um die Bearbeitung eines bestimmten Themas, z. B.: „Der Schutz Minderjähriger im deutschen und im französischen Recht“. In diesem Kapitel erhalten Sie einige grundlegende Hinweise über die Anfertigung juristischer Hausarbeiten. Manches wird Ihnen hierbei vielleicht sehr formalistisch und kleinlich erscheinen. Sie sollten allerdings bedenken, dass Sie mit der Anfertigung einer Hausarbeit unter Beweis stellen, ob Sie am wissenschaftlichen Diskurs unter Juristen teilnehmen können. Wer hierbei die üblichen Gepflogenheiten missachtet, bringt sich in eine ähnlich unangenehme Lage wie der Hochzeitsgast, der in Jeans und Turnschuhen zur Feier kommt. Im besten Fall mag er für seinen Fauxpas belächelt werden. Möglicherweise wird er aber bei den Gastgebern (oder auch bei anderen Gästen) sogar auf Ablehnung oder Verärgerung stoßen. Übertragen auf juristische Hausarbeiten (und deren Bewertung) bedeutet das: Aussicht darauf, als Fachkollege ernst genommen zu werden, hat nur, wer in formaler Hinsicht keinen Zweifel daran lässt, dass er die geltenden Regeln kennt und fehlerfrei beherrscht. Manche Details der folgenden Hinweise mögen auch unter Hochschullehrern umstritten sein. Daher gilt folgende Empfehlung vor der Anfertigung einer Seminar- oder Bachelorarbeit: Setzen Sie sich unbedingt mit der Betreuerin oder dem Betreuer Ihrer Arbeit in Verbindung, bevor Sie daran gehen, die Reinschrift Ihrer Ausarbeitung anzufertigen. Sofern man Wert auf die Beachtung bestimmter Besonderheiten legt, werden Sie bestimmt einen entsprechenden Hinweis bekommen.
II. Inhalt und Aufbau wissenschaftlicher Arbeiten
Viele Studierende haben auch nach mehreren Semestern keine rechte Vorstellung davon, was von ihnen bei der Anfertigung einer Seminararbeit eigentlich erwartet wird. Denn anders als bei den meisten Einsendeaufgaben und Klausuren werden Inhalt und Struktur des Textes nicht dadurch vorgegeben, dass ein Fall nach der „Anspruchsmethode“ gelöst werden muss. In der Tat hat man bei der Anfertigung einer wissenschaftlichen Arbeit über ein bestimmtes Thema etwas größere Freiheit als bei der Fallbearbeitung. Das hängt auch mit der Bandbreite möglicher Themen zusammen. Zur Orientierung taugt vielleicht Folgendes: Stellen Sie sich vor, dass Sie zu dem Thema, das Sie bearbeiten sollen, einen Beitrag für eine juristische Fachzeitschrift anzufertigen hätten. Machen Sie sich möglichst schon zu Beginn Ihres Studiums eine Vorstellung davon, wie Fachaufsätze geschrieben und gegliedert werden. Lesen Sie von Anfang an Beiträge in den gängigen Ausbildungszeitschriften, z. B. der „Juristischen Schulung (JuS)“, der „Juristischen Ausbildung (Jura)“ oder den „Juristischen Arbeitsblättern (JA)“. Mit der Zeit werden Sie ein Gefühl dafür bekommen, was im wissenschaftlichen Gespräch angemessen ist und was nicht. Das anzustrebende (sicherlich kaum erreichbare) „Ideal“ für eine Bachelorarbeit könnte dann ein umfangreicherer Beitrag in einer „Archivzeitschrift“, etwa im „Archiv für die civilistische Praxis (AcP)“ oder in der „Zeitschrift für den Zivilprozess (ZZP)“, sein. Spätestens ab der Mitte Ihres Studiums sollten Sie – je nach Interesse für ein bestimmtes Rechtsgebiet – gelegentlich auch einen Blick in solche „wissenschaftlichen“ Periodika werfen. Wichtig ist, dass Sie den Leser mit einer kurzen Einleitung in das Thema einführen und dass am Ende Ihrer Arbeit eine klare Zusammenfassung Ihrer Ergebnisse steht. Ziel ist nicht die lehrbuchartige Darstellung des Rechtsgebietes, dem Ihr Thema entnommen ist. Vielmehr geht es darum, dass Sie unter Abwägung der in Rechtsprechung und Literatur bislang vertretenen Auffassungen zu einer eigenen, von Ihnen durchdachten Sicht der Dinge kommen. Das längliche Referieren fremder Auffassungen („1. Rechtsprechung des BGH“; „2. Auffassung von Meier“; „3. Meinung von Schulze“; „4. Vorschlag von Müller“; „5. Eigene Meinung“) bringt nur selten einen Erkenntnisfortschritt. Sofern Sie in einer Hausarbeit einen konkreten Fall gutachterlich zu beurteilen haben, gelten grundsätzlich dieselben Regeln für die Abfassung einer Falllösung wie bei Klausuren und Einsendeaufgaben. Allerdings sind die folgenden formalen Hinweise für solche Hausarbeiten zusätzlich zu beachten.
III. Formale Hinweise
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Bestandteile der Arbeit
Die Arbeit besteht aus Titelblatt, Inhaltsverzeichnis, ggf. Abkürzungsverzeichnis, Literaturverzeichnis und dem von Ihnen geschriebenen Text. Die ersten Teile (einschließlich des Literaturverzeichnisses) sind in römischen Ziffern zu nummerieren. Das Titelblatt erhält keine Seitenzahl. Darauf folgt der in arabischen Ziffern paginierte Text mit Ihrer Ausarbeitung des Themas. Etwaige Vorgaben für die Seitenzahl beziehen sich nur auf diesen Textteil.
a) Titelblatt
Das Titelblatt enthält Name, Anschrift (nebst Telefon/E-Mail) und Matrikelnummer des Verfassers, in der Blattmitte die Bezeichnung der Hausarbeit (Seminararbeit // im Studiengang Bachelor of Laws // der FernUniversität in Hagen // zum Thema „XY“) und unten auf der Seite das Abgabedatum.
b) Gliederung/Inhaltsverzeichnis
Verwenden Sie besondere Sorgfalt auf eine klare Gliederung, die dem Leser den Aufbau Ihrer Arbeit transparent macht. Für die meisten Leser sind Gliederung und Literaturverzeichnis die „Visitenkarte“ Ihrer Arbeit. Oft deuten Gliederungsfehler oder ein schludriges, schmales Literaturverzeichnis auf eine oberflächliche Arbeitsweise hin. Selten wird eine schlecht gegliederte Arbeit mit einem dürftigen Literaturverzeichnis eine gute Note erhalten. Bei einer Seminar- oder Bachelorarbeit wird es kaum einmal erforderlich sein, mehr als sieben Gliederungsebenen zu benutzen. Gegliedert wird nach der „klassischen“ Gliederung, d. h. „A. I. 1. a) aa) (1) (a)“.
Beispiel
A. Einleitung .............................................................................................. 1
B. Schuldnerschutz durch Publizität ......................................................... 1
I. Abtretungsanzeige ................................................................................ 1
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Konstitutive Abtretungsanzeige ............................................... 1
a) Abtretung von Ansprüchen gegen den Steuergläubiger (§ 46 Abs. 2 AO) ................................................................................... 1
b) Rechtsgeschäftliche Anzeigeerfordernisse .......................................... 5 -
Abtretung von Gehaltsansprüchen gegen öffentliche Kassen (§ 411 BGB) .......................................................................................... 8
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Abtretungsanzeige und Ausstellung einer Abtretungsurkunde an den Schuldner nach §§ 409, 410 BGB ............................................... 13
II. Formerfordernisse .............................................................................. 18 -
Formvorschriften für alle Arten von Abtretungen .............................. 18
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Besondere Formerfordernisse für bestimmte Arten von Abtretungen ................................................................................................... 25
C. Beschränkungen der Abtretbarkeit ..................................................... 32
D. Ergebnis ............................................................................................... 37
Bei der Gliederung können sich leicht unnötige Fehler einschleichen. Häufig missachtet wird der Grundsatz „Wer ‚A‘ sagt, muss auch ‚B‘ sagen.“ Sobald man einen Gliederungspunkt einfügt, muss also zumindest ein weiterer Gliederungspunkt auf derselben Ebene folgen. Der größte Teil des Textes sollte in der jeweils untersten Gliederungsebene stehen, im obigen Beispiel also unter A. I. 1. a) und b), A. I. 2. und 3., A. II. 1. und 2. sowie unter B. (sofern B nicht untergliedert ist). Auf den höheren „ungegliederten“ Ebenen (z. B. A. II. vor A. II. 1.) kann aber bei Bedarf kurz in die folgenden Einzelprobleme eingeführt werden. Auf der jeweiligen Gliederungsebene sollten nicht zu viele Überschriften stehen. Bei Seminararbeiten reichen meist drei bis fünf Überschriften pro Gliederungsebene aus. Mehr als sieben Überschriften auf einer Ebene können darauf hindeuten, dass der Gedankengang nicht klar strukturiert worden ist. Selbstverständlich müssen die Überschriften in der Gliederung gleich lauten wie die entsprechenden Überschriften im Text der Arbeit. Die Gliederung selbst gehört nicht als eigener Gliederungspunkt in die Gliederung hinein.
c) Abkürzungsverzeichnis
Ein Abkürzungsverzeichnis ist nicht erforderlich, solange lediglich übliche Abkürzungen der Rechtssprache benutzt werden. In diesem Fall genügt ein Hinweis (am Ende des Literaturverzeichnisses) auf ein gängiges Abkürzungsverzeichnis. Am weitesten verbreitet ist Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. Aufl. 2008. Die Abkürzungen sollten dann aber auch den dort vorgeschlagenen entsprechen!
d) Literaturverzeichnis
Das Literaturverzeichnis enthält die gesamte in der Arbeit zitierte Literatur (aber auch nur diese!) in alphabetischer Reihenfolge. Eine Aufteilung nach Literaturgattungen (z. B. Kommentare, Aufsätze, Monografien) empfiehlt sich nicht. Denn damit wird es dem Leser nur unnötig erschwert, ein bestimmtes Werk im Literaturverzeichnis zu finden.
aa) Monografien
Monografien werden mit dem Namen und Vornamen des Verfassers, Titel, Auflage (ab 2. Auflage), Erscheinungsort und Erscheinungsjahr zitiert. Die Angabe des Verlags ist überflüssig. Dissertationen, die nur als Dissertationsdruck (und nicht in einem Verlag) erschienen sind, erhalten den Zusatz „Diss.“. Der Name des Autors sollte kursiv gesetzt werden.
Beispiele
Becker, Christoph, Insolvenzrecht, 3. Aufl. Köln 2010
Jauernig, Othmar/Hess, Burkhard, Zivilprozessrecht, 30. Aufl. München 2011
Walz, Rolf, Testamentsvollstreckung in deutsch-englischen Erbfällen, Diss. Freiburg i. Br. 1998
Kaiser, Erhard, Verlängerter Eigentumsvorbehalt und Globalzession im IPR, Pfaffenweiler 1986
Bei Verwechslungsgefahr empfiehlt es sich, einen Kurztitel im Literaturverzeichnis anzugeben, um in den Fußnoten (dazu unten 2. b) nicht jeweils den Volltitel nennen zu müssen.
Beispiele (zitiert: SachenR)
Heck, Philipp, Grundriß des Sachenrechts, Tübingen 1930
Heck, Philipp, Grundriß des Schuldrechts, Tübingen 1929 (zitiert: SchuldR)
bb) Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken
Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken werden mit dem Namen des Autors, dem Titel des Beitrags und der Zeitschrift/des Sammelwerks, in dem das Werk erschienen ist, genannt. Obligatorisch sind erste und letzte Seite des Beitrags, damit der Leser erkennen kann, ob es sich (quantitativ) um ein „gewichtiges“ Werk oder nur um einen Kurzbeitrag handelt.
Beispiele
Henckel, Wolfram, Einziehungsermächtigung und Inkassozession, in: Festschrift für Karl Larenz, München 1973, S. 643–660
Kieninger, Eva-Maria, Nationale, europäische und weltweite Reformen des Mobiliarsachenrechts, WM 2005, 2305–2310 und 2353–2359
Bork, Reinhard, Die Verfügungsbefugnis bei der Vorauszession, in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, hrsg. von Reinhard Zimmermann, 1999, S. 289–305
Bei „Archivzeitschriften“ (z. B. AcP, AöR, JherJb, GA, RabelsZ, ZHR, ZZP) ist es üblich, auch die Bandzahl zu nennen.
Beispiele
Kohler, Josef, Der Dispositionsnießbrauch, JherJb 24 (1886), 187–328
Rabel, Ernst, Deutsches und amerikanisches Recht, RabelsZ 16 (1951), 353–359
cc) Kommentare
Kommentare, die unter einem (früheren) Autorennamen erscheinen, werden unter diesem Namen ins Literaturverzeichnis aufgenommen. Bei mehrbändigen Kommentaren ist auch der benutzte Band anzugeben. Ein Hinweis auf die spätere Zitierweise in den Fußnoten ist empfehlenswert.
Beispiele
Palandt, Otto, Bürgerliches Gesetzbuch, 71. Aufl. München 2012 (zitiert: Palandt/Bearbeiter)
Staudinger, Julius von, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 1: Allgemeiner Teil, §§ 134–163, ProstG, Neubearb. Berlin 2011; §§ 164–240, Neubearb. Berlin 2011; Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 255–304, Neubearb. Berlin 2009; §§ 328–345, Neubearb. Berlin 2009 (zitiert: Staudinger/Bearbeiter)
Kommentare, die nicht unter dem Namen eines (früheren) Verfassers erscheinen, sondern nur Herausgeber haben, werden unter ihrem Titel geführt.
Beispiel
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1 (Allgemeiner Teil, ProstG, AGG), 6. Aufl. München 2012; Bd. 2 (Schuldrecht Allgemeiner Teil), 6. Aufl. München 2012; Bd. 3 (Besonderer Teil 1), 6. Aufl. München 2012; Bd. 4 (Besonderer Teil 2), 5. Aufl. München 2009; Bd. 5 (Besonderer Teil 3), 5. Aufl. München 2009; Bd. 10 (Internationales Privatrecht, Rom I-VO, Rom II-VO, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche [Art. 1–24]), 4. Aufl. München 2006 (zitiert: MünchKomm-Bearbeiter)
Die Angabe der (manchmal von Auflage zu Auflage wechselnden) Herausgeber des Kommentars ist zulässig, aber nicht zwingend.
Beispiel
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. von Säcker/Rixecker, Bd. 1 (Allgemeiner Teil, ProstG, AGG), 6. Aufl. München 2012 (zitiert: MünchKomm-Bearbeiter)
dd) Amtliche Werke
Gesetzestexte, Bundestags- und Bundesratsdrucksachen und Gerichtsentscheidungen gehören nicht ins Literaturverzeichnis. Entscheidungsanmerkungen dürfen hingegen aufgeführt werden.
Beispiel
Brehm, Wolfgang, Anmerkung zu BGH JR 1988, 14 (= BGHZ 100, 217), JR 1988, 16–17
e) Text
Der Text mit Ihrer Darstellung des Themas ist maschinenschriftlich in den Schriftarten und -größen „Times New Roman 12“ oder „Arial 11“ abzusetzen. Das linke Drittel bleibt als Korrekturrand frei, der Zeilenabstand beträgt 1,5 Zeilen. Am Absatzende kann der Abstand etwas größer sein, um den Text übersichtlicher zu gestalten. Unterschiedliche Abstände nach Absätzen (manchmal eine halbe Leerzeile, dann wieder eine ganze) sind unzulässig. Übermäßig lange Absätze (mehr als eine halbe Seite) sollten ebenso vermieden werden wie Absätze, die nur aus 1–2 Sätzen bestehen. Beides deutet darauf hin, dass der Gedankengang unstrukturiert ist. Man könnte meinen, es bedürfe keiner besonderen Erwähnung, dass der von Ihnen erstellte Text keine Rechtschreib- und Grammatikfehler enthalten darf. Doch viele Seminar- und auch Bachelorarbeiten sind leider weit davon entfernt, in sprachlicher Hinsicht makellos zu sein. Häufen sich solche Fehler, dann wird dem Leser missmutig. Das wirkt sich auf die Bewertung der Leistung nur selten positiv aus. In vielen Fällen hängt der schludrige Umgang mit der Sprache auch eng mit der mangelhaften rechtlichen Qualität einer Arbeit zusammen. Denn das Instrument des Juristen ist die Sprache. Wer sie nicht sicher beherrscht, wird nicht weit kommen. Viele Jura-Studentinnen und -Studenten machen leider auch den Fehler, dass sie einen komplizierten Stil für besonders „juristisch“ und deswegen für erstrebenswert halten. Das Gegenteil ist der Fall. Umständliche Substantivierungen und Passivkonstruktionen („Die Regelung der Übereignung wurde vom Gesetzgeber in §§ 929 ff. BGB vorgenommen“) sind ungeschickt. Niemand ist (bei einer Fallbearbeitung) über einen Satz wie den folgenden erfreut: „Die Annahme des Angebots durch V dürfte erfolgt sein, indem die Lieferung der Ware von V an K getätigt wurde.“ Besser ist: „V nahm das Angebot durch Lieferung der Ware an K an.“ Evidenzformeln, z. B. „selbstverständlich“, „offensichtlich“, „natürlich“, sollten Sie vermeiden. Solche Begriffe kaschieren oft nur Unsicherheit und machen den geschulten Leser misstrauisch. Keinen besseren Eindruck macht, wer sogar seine Ergebnisse allzu vorsichtig formuliert.
Beispiel
„Daher erscheint es angemessen, zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass das Abstraktionsprinzip dem Verkehrsschutz dienen dürfte.“ Besser ist der Satz: „Daher dient das Abstraktionsprinzip dem Verkehrsschutz.“ Viele Studierende benutzen auch direkte Fragen („Daher stellt sich die Frage: Wie erhält der Erfinder Patentschutz?“). Vorsichtig dosiert, ist dies ein zulässiges Stilmittel. Spätestens bei der dritten direkten Frage wird der Leser allerdings ungehalten.
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Zitierweise
Ein besonders wichtiges Instrument der Rechtswissenschaft sind Rechtsvorschriften. Sobald man sich in einer wissenschaftlichen Arbeit auf eine bestimmte Rechtsnorm bezieht, muss man sie so exakt wie möglich zitieren (dazu unten a). Sofern Rechtsnormen fehlen oder nicht eindeutig sind, lebt die Rechtswissenschaft vom „Streit“, d. h. von der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen. Bei der Anfertigung einer wissenschaftlichen Arbeit wird dieses wissenschaftliche Gespräch durch Zitate dokumentiert. Zitate dienen dazu, dem Leser deutlich zu machen, wer vor dem Verfasser bestimmte Standpunkte vertreten (oder abgelehnt) hat. Sobald man sich kritisch oder zustimmend auf andere Auffassungen oder auch Ideen bezieht, ist dies durch ein Zitat (i. d. R. in einer Fußnote) kenntlich zu machen (dazu unten b). Zitiert wird i. d. R. sinngemäß. Die zitierte Auffassung ist also nicht wörtlich zu übernehmen, sondern in eigenen Worten darzustellen. Wörtliche Zitate sind zulässig, wenn sie als solche (mit Anführungszeichen und Hinweis auf den Autor) kenntlich gemacht werden. Man sollte das wörtliche Zitat aber ähnlich sparsam einsetzen wie die direkte Frage (vgl. oben 1. e).
Beachte
Wörtliche Zitate, die nicht als solche (also mit Anführungszeichen und Nennung von Werktitel und -autor) gekennzeichnet sind, verletzen möglicherweise das Urheberrecht des plagiierten Autors. Das kann zivil- und strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen (vgl. §§ 97 ff., 106 ff. UrhG) und ist zugleich ein Täuschungsversuch, der zum Nichtbestehen der jeweiligen Prüfungsleistung führt. Sinngemäße Übernahmen fremder Gedanken ohne Zitat sind urheberrechtlich weniger problematisch, verstoßen aber ebenfalls gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. Auch Letzteres führt zur Abwertung oder gar zum Nichtbestehen einer Arbeit. Zitieren Sie daher immer so genau und ehrlich wie nur irgend möglich!
a) Gesetze
Erstaunliche Probleme bereitet vielen Studierenden das Zitieren von Rechtsvorschriften. Schlampigkeit ärgert den Leser hier schon deswegen, weil er länger braucht, um die erwähnte Norm zu finden. Außerdem schwindet mit jedem ungenauen Zitat das Vertrauen in die juristischen Fertigkeiten des Verfassers. Rechtsvorschriften können im Text zitiert werden. Hat eine Norm mehr als einen Satz oder Absatz, so ist sie exakt mit dem jeweiligen Absatz und Satz, ggf. mit Nummer und Ordnungsbuchstaben zu zitieren. Beispiele: § 13 BGB; § 179 Abs. 3 Satz 1 BGB; § 309 Nr. 2 lit. a BGB; § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB; § 433 Abs. 2 BGB; Art. 15 Satz 2 GG. Beziehen Sie sich auf einen Satzteil, so ist auch dieser zu nennen. Beispiele: § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB; § 426 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB. Die in der Klausur übliche abgekürzte Zitierweise, nach der die Absätze mit römischen und die Sätze mit arabischen Ziffern bezeichnet werden, ist grundsätzlich auch in Hausarbeiten zulässig. Der Vorteil dieser Zitierweise ist ihre Knappheit ohne Verlust an Genauigkeit. Gelegentlich begegnet diese Zitierweise allerdings Vorbehalten. Dies dürfte auch darauf beruhen, dass sie nicht den Gepflogenheiten der Obergerichte entspricht. Beispiele für die abgekürzte Zitierweise: § 433 I 2 BGB; § 14 II BGB; § 212 I Nr. 2 BGB.
b) Sonstige Quellen
Abgesehen von Rechtsvorschriften werden die verwendeten Quellen nicht im Text, sondern in Fußnoten84 am Ende jeder Seite (also nicht am Ende der gesamten Arbeit!) aufgeführt. Fußnoten können in etwas kleinerer Schrifttype als der Text geschrieben werden („Arial 9“ oder „Times New Roman 10“). Sie sind einzeilig mit ca. ¼–½ Zeile (3–6 points) Abstand am Absatzende. Fußnoten geben Aufschluss darüber, auf wessen Auffassung oder Gedanken Sie sich an einer bestimmten Stelle Ihrer Arbeit beziehen. In vielen Fällen ist es sinnvoll, mehrere Quellen (jeweils durch Semikolon voneinander getrennt) in einer Fußnote zu nennen. Eine „herrschende Meinung (h. M.)“ sollte z. B. durch Zitate aus Rechtsprechung und Literatur belegt werden. Für die „herrschende Lehre (h. L.)“ genügt der Hinweis auf literarische Äußerungen, die „ständige Rechtsprechung“ (st. Rspr.) wird nur mit Urteilen belegt. Der Zusatz „Vgl.“ ist nur zulässig, wenn das Zitat die Aussage im Text nicht direkt untermauert, aber zu deren allgemeinem Verständnis nützlich ist.
Beachte: (1) Fußnoten beginnen immer mit einem Großbuchstaben! (2) Mehrere Quellen in einer Fußnote werden jeweils durch ein Semikolon voneinander getrennt. (3) An das Ende jeder Fußnote gehört ein Punkt!
aa) Rechtsprechung
Auch in einer wissenschaftlichen Arbeit ist die einschlägige Rechtsprechung von besonderem Interesse. „Denn hier wird nicht nur geredet, sondern gehandelt.“ Soweit eine Entscheidung in einer amtlichen Sammlung (z. B. BGHZ, BGHSt, BVerfGE, BAGE) abgedruckt ist, sollte sie möglichst nach dieser Sammlung zitiert werden. Denn die amtlichen Sammlungen, die von der Universitätsbibliothek z. T. auch online zur Verfügung gestellt werden (insbesondere BGHZ und BGHSt), sind nicht nur besonders verbreitet; die Aufnahme in die amtliche Sammlung zeigt auch, dass das Gericht der Entscheidung besondere Bedeutung beimisst. Zitiert werden der Band (1. Zahl), die erste Seite der Entscheidungssammlung (2. Zahl) und die konkrete Fundstelle (3. Zahl). Empfehlenswert ist die Nennung des Datums der Entscheidung. Wer besondere Sorgfalt an den Tag legt, nennt zudem die Entscheidungsform (i. d. R. Beschluss oder Urteil) sowie das Aktenzeichen; bei deutscher Rechtsprechung ist das aber nicht zwingend. Entscheidungen aus dem Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht (z. B. Urheberrecht, gewerblicher Rechtsschutz, UWG) werden häufig mit einer Kurzbezeichnung versehen; diese Kurzbezeichnung ist ebenfalls zu nennen. In jüngerer Zeit gehen manche Gerichte dazu über, ihre Entscheidungen absatzweise zu nummerieren. Ist das der Fall (seit 2006 etwa beim BGH), so wird die konkrete Randnummer (Rn.) in der Fußnote genannt. Auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) werden möglichst nach der amtlichen Sammlung (Slg.), die für jedermann online zugänglich ist, http://curia.europa.eu